FREIWILLIGENARBEIT | Das Leben prägende Erfahrungen

24.07.2024 Elisabeth Seifert

Der Tessiner Verein Atgabbes ermöglicht Menschen mit und ohne Beeinträchtigung sowie den sie begleitenden Freiwilligen aussergewöhnliche Ferienerlebnisse. In den Sommerlagern ent­stehen Freundschaften zwischen den Teilnehmenden – und die Freiwilligen wachsen zu einer verschworenen Gemeinschaft
zusammen.

In diesen Tagen und Wochen schwärmen sie in alle Himmelsrichtungen aus: Über 300 Freiwillige des Tessiner Vereins Atgabbes verbringen gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen sowie Erwachsenen mit und ohne Beeinträchtigung einen Teil ihrer Sommerferien. In insgesamt 25 Lagern sorgen sie im Verlauf der langen Ferienzeit in der Sonnenstube der Schweiz für Spass, Abwechslung, Entdeckungen – und soziale Kontakte zwischen Menschen ganz unterschiedlicher Art.

Die Lager, deren Aktivitäten allesamt von Freiwilligen im Alter zwischen 18 und 75 Jahren vorbereitet und durchgeführt werden, dauern jeweils ein bis zwei Wochen. Etliche davon finden direkt im Tessin statt, ganz besonders jene, bei denen die Teilnehmenden jeweils zu Hause übernachten. Mehrere Gruppen von Freiwilligen und Erwachsenen mit eher leichteren Behinderungen zieht es neben der Schweiz ins umliegende Ausland, nach Italien oder Frankreich etwa.

Ein grösserer Teil der Freiwilligen indes reist für zwei Wochen mit den ihnen anvertrauten Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen an einen Ort in der Schweiz, wo sie sich in einem gemieteten Haus einrichten und von dort aus Aktivitäten und Exkursionen unternehmen. Eine Mehrheit dieser als «Colonie» bezeichneten Sommerlager sind inklusiv organisiert: In zwei Lagern für Kinder begleiten jeweils 20 Freiwillige 10 Kinder mit und 10 Kinder ohne Behinderung. Gleiches gilt für zwei weitere Lager, die sich an Jugendliche richten. Und inklusiv sind auch drei «Colonie» für erwachsene Menschen mit Behinderung organisiert, wo neben den Freiwilligen Kinder ohne Behinderung mit dabei sind.

An einer inklusiven Zukunft arbeiten

Neben dem ohnedies schon breitgefächerten Lagerangebot verfolgt der Verein seit kurzer Zeit noch ein weiteres Projekt: Eine Freiwillige oder ein Freiwilliger von Atgabbes nimmt gemeinsam mit einem Kind oder auch einem Jugendlichen mit Behinderung an Sommeraktivitäten regionaler Sportvereine, der Pfadi, von Gemeinden und Kirchen teil. «Unser eigenes Lagerangebot für Kinder und Jugendliche ist für die grosse Nachfrage aufseiten der Eltern schlicht zu klein», meint Tiziana Jurietti, die Geschäftsführerin von Atgabbes, und fügt bei: «Im Hinblick auf eine inklusive Zukunft sollten die Sommeraktivitäten der vielen Vereine für alle Menschen offen sein. Irgendwann werden unsere Sommerferienangebote hoffentlich gar nicht mehr nötig sein», beschreibt die Atgabbes-Geschäftsführerin das Ziel. Neben eigenen Freiwilligen ermöglicht Atgabbes denn auch all den Vereinen und Organisationen, die Sommeraktivitäten anbieten, Freiwillige in der Begleitung von Menschen mit Behinderung auszubilden. Die Bereitschaft der Vereine, eigene Freiwillige für solche Begleitaufgaben zu stellen, sei grundsätzlich vorhanden, beobachtet Jurietti. Es sei aber schwierig, pro Kind eine freiwillige Person zu finden. Zudem sind in den gesetzlichen Bestimmungen für die «regulären» Lager noch keine zusätzlichen Ressourcen für Kinder mit Beeinträchtigung vorgesehen.

Gegründet im Jahr 1967, ist der Verein Atgabbes aufgrund der Sommer für Sommer durchgeführten Ferienlager heute den meisten Tessinerinnen und Tessinern ein Begriff. Jurietti: «Auch wenn nicht alle den Namen Atgabbes kennen, wissen sie, dass wir Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderung organisieren.» Seit der ersten «Colonia» auf dem Monte Ceneri im Jahr 1969 bilden die Sommerlager die am besten bekannte Aktivität von Atgabbes. Mehrere tausend Freiwillige haben sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte vor allem in diesem Bereich engagiert. Und viele heute längst erwachsene Personen haben als Kinder oder Jugendliche an den inklusiven «Colonie» teilgenommen.

Darüber hinaus bilden ehrenamtlich Tätige den kantonalen Vorstand des Vereins sowie die regionalen Gremien. Mehrheitlich Fachpersonen engagieren sich indes für die verschiedenen spezialisierten Angebote des Vereins, darunter Spielgruppen, Weiterbildungskurse und Beratungsangebote. Atgabbes ist heute der Tessiner Kantonalverband der beiden Vereinigungen Insieme Schweiz und Cerebral Schweiz.

Kinder werden als Erwachsene zu Freiwilligen

Ob in den 1960er-Jahren, wo nach der Einführung der IV die ersten professionellen Strukturen im Behindertenbereich entstanden sind, oder heute: Ohne die vielen Freiwilligen gäbe es im Tessin, aber auch in anderen Teilen der Schweiz kaum ein so breites Freizeit- oder Ferienangebot – und damit auch nicht die Möglichkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft.

Auch wenn die Sommerlager von Atgabbes weitherum bekannt sind, kommen die Freiwilligen nicht einfach von selbst. Im Jahr 2023 etwa rekrutierte der Verein 115 neue Freiwillige. Wesentlich an deren Rekrutierung beteiligt ist Paola Bulgheroni, sie ist verantwortlich für den Bereich Freizeit innerhalb von Atgabbes. Eine wichtige Rolle spiele die Mund-Propaganda, betont sie, aber auch die Werbung über die sozialen Medien. Bewährt haben sich zudem regelmässige Präsentationen an Universitäten, Fachhochschulen, Höheren Fachschulen und Berufsschulen. Im Tessin selber, aber auch in der Romandie sowie in der Deutschschweiz – überall dort, wo Tessinerinnen und Tessiner studieren. Bulgheroni: «Wir sprechen in diesen Präsentationen insbesondere Lernende und Studierende aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich an.» Willkommen seien natürlich auch Freiwillige aus anderen Berufen.

«Wenn 20 Freiwillige während zweier Wochen auf partnerschaftliche Weise Entscheide fällen müssen, ist das keine einfache Sache. Man lernt dadurch aber auch, Verantwortung zu übernehmen.» Paola Bulgheroni, Verein Atgabbes

Viele der Freiwilligen haben indes einen entsprechenden beruflichen Hintergrund und sind jung, nämlich zwischen 18 und 30 Jahre alt. Auch Paola Bulgheroni hat seinerzeit ein Studium in der Heilpädagogik absolviert – und war während ihres Studiums und danach für mehrere Jahre als Freiwillige in den «Colonie» tätig. Ihre Verbindung zu den inklusiven Sommerlagern hat dabei schon viel früher begonnen – als 10-Jährige in einem Kinderlager. Sie nahm in der Folge – noch als Minderjährige – an weiteren Lagern teil, bis sie schliesslich gemeinsam mit anderen Freiwilligen solche Lager selbst leitete. Und: Paola Bulgheroni, heute 30, ist mit dieser Geschichte kein Einzelfall.

Magische Erlebnisse

Aufgrund ihrer langjährigen Verbundenheit mit dem Verein kann sie auf authentische Art und Weise für die Freiwilligenarbeit werben. Und was ist es jetzt, das die ehrenamtliche Arbeit in den Ferienlagern für sie so attraktiv macht? Sie überlegt kurz und sagt dann mit einem Lächeln im Gesicht: «Die Erfahrungen, die wir hier machen dürfen, haben mit Magie zu tun.»

Sie spricht damit besonders das Engagement in den «Colonie» an, wo jeweils eine Gruppe von Freiwilligen gemeinsam mit Kindern, mit Jugendlichen oder mit Erwachsenen während zweier Wochen eine intensive Zeit verbringt. Und dies oft nicht nur während eines Sommers, sondern über mehrere Jahre hinweg. «Im Bereich der ‹Colonie› streben wir Kontinuität an», betont Paola Bulgheroni. Die Teilnehmenden mit Behinderung haben oft schwerere Beeinträchtigungen und seien deshalb auf stabile Beziehungen angewiesen.

Die Freiwilligen sowie die Teilnehmenden mit und ohne Behinderung, die sich jedes Jahr erneut treffen, wachsen auf diese Weise zu einer verschworenen (Ferien-)Gemeinschaft zusammen. «Gerade auch teilnehmende Kinder und Jugendlich ohne Behinderung machen auf diese Weise inklusive Erfahrungen, die ihr ganzes weitere Leben prägen», weiss Paola Bulgheroni. «Es entstehen in den Lagern auch immer wieder Freundschaften zwischen Kindern mit und ohne Behinderung.» Für sie persönlich war ganz besonders auch die Gemeinschaft mit den anderen Freiwilligen von zentraler Bedeutung: «Die Freiwilligen sind so etwas wie Familie für mich geworden, beste Freundinnen und Freunde.»

Unterstützung und Beratung

Die Vorbereitungsarbeiten und die Durchführung der «Colonie» sind allerdings mit viel Arbeit verbunden und bringen auch so manche Herausforderung mit sich. Bei der Planung der Aktivitäten etwa müsse berücksichtigt werden, dass sich diese für Menschen mit und ohne Behinderung eignen. Für Paola Bulgheroni ist es immer wieder erstaunlich, mit welcher Kreativität und Energie die Gruppen hier ans Werk gehen. Und: «Wenn 20 Freiwillige während zweier Wochen auf partnerschaftliche Weise Entscheide fällen müssen, ist das keine einfache Sache.» Man lerne dadurch aber auch, Verantwortung zu übernehmen.

Selbst wenn viele der Freiwilligen in Sozial- oder Gesundheitsberufen tätig sind, stellt sie die Begleitung von Menschen mit Mehrfachbehinderungen oder mit einem herausfordernden Verhalten doch immer wieder vor eine schwierige Aufgabe. «Erfahrene Freiwillige helfen weniger Erfahrenen», so Paola Bulgheroni. Zudem biete der Verein mittels interner oder auch externer Schulungen Unterstützung an. Und: Vor den Einsätzen in Sommer finden regelmässig Besprechungen statt, in denen die Freiwilligen auf die spezifischen Probleme der begleiteten Menschen vorbereitet werden.

Die Erfahrungen, welche die Freiwilligen machen, werden ihnen in einem Zertifikat bestätigt. Bulgheroni: «Die vielen jungen Menschen können so Berufserfahrungen sammeln und diese im Lebenslauf ausweisen.» Abgeschlossen wird der Sommer jeweils mit einem Apéro für all die vielen Freiwilligen. «Ihr Einsatz soll ein positives Erlebnis sein, sodass sie auch im nächsten Jahr wieder kommen.»
 



Foto: Atgabbes