FACHKRÄFTE | Die Liniengespräche helfen, regelmässig den Puls zu fühlen
In der Wohngruppe Rose wird Mitarbeiterversorgung grossgeschrieben: «Nur wer sich sicher fühlt und als Person wahrgenommen wird, kann den jungen Frauen ein sicheres Umfeld bieten» lautet die Maxime von Heimleiterin Nicole Wolschendorf. Ein wichtiges Instrument dafür sind die regelmässig stattfindenden Liniengespräche auf allen Ebenen.
Wer in der Wohngruppe Rose in Heiden AR arbeitet, soll sich sicher und gut betreut fühlen. Darauf legt Heimleiterin Nicole Wolschendorf grossen Wert. Sie ist überzeugt: Nur so können die durchwegs weiblichen Mitarbeiterinnen den zehn jungen Frauen im Alter von 13 bis 20 Jahren die stabile Sicherheit vermitteln, die sie brauchen, um sich von starken familiären oder schulischen Belastungen zu erholen. Die Rose-Leitung stärkt deshalb die Stabilität ihrer Mitarbeiterinnen seit zehn Jahren unter anderem mit einem Instrument namens «Regelmässige Liniengespräche»: Alle drei bis sechs Wochen führen die Vorgesetzten mit jeder einzelnen Person ihres jeweiligen Verantwortungsbereichs ungezwungene, vertrauensvolle Gespräche – über ihr persönliches Wohlbefinden, darüber, wie sie sich im Team fühlen und wie es mit den jungen Frauen läuft. Das entspricht Nicole Wolschendorfs Überzeugung: Wer so intensiv sozialpädagogisch arbeitet und dabei so viel von der eigenen Persönlichkeit einbringt, muss durchs Band weg gut getragen werden. Und bleibt dafür dem Team länger erhalten. Tatsächlich habe sich diese Maxime bestens bewährt, sagt sie: «Wer hier arbeitet, schätzt diese Haltung sehr.»
Darum arbeite ich gerne hier - Fachkräfte erzählen
Allerdings, die engagierte Heimleiterin schüttelt leicht resigniert den Kopf: Geht es darum, neue qualifizierte Sozialpädagoginnen zu finden, hat auch die Wohngruppe Rose mitunter Mühe. «Wir können im Gegensatz zu ambulanten Einrichtungen weniger finanzielle Anreize bieten und haben die ungünstigeren Arbeitszeiten mit langen Diensten, während zugleich die Pikettdienste oder Lagerbegleitung nur pauschal vergütet werden», zählt Nicole Wolschendorf auf. Kurz: «Die Stellen bei ambulanten Diensten sind attraktiver und besser bezahlt.» Um diese Rahmenbedingungen zu verbessern, arbeitet sie intensiv daran, sich breit politisch zu vernetzen. Für ihre Teams, die sich zunehmend über die immer grössere administrative Last beklagen, sucht sie jedoch nach rascheren Lösungen. Daher arbeitet sie gemeinsam mit Barbara Helfer, Stellvertretende Heimleiterin und Gruppenleiterin, an neuen Arbeitsmodellen. Details möchten die beiden noch nicht verraten, aber so wie es aussieht, lancieren sie noch dieses Jahr einen ersten Versuch mit neuer Aufgabenverteilung und hoffen, damit als Arbeitgeberin noch attraktiver zu werden.
Mitarbeiterversorgung: «Kein Luxus»
Bis dahin setzt Nicole Wolschendorf weiterhin auf die gute Teambetreuung. Sie hat für den Jahresbericht 2021 die Arbeitszeitaufteilung ihrer Mitarbeiterinnen aufgeschlüsselt und grafisch dargestellt: Satte 31 Prozent der Zeit fliessen in die Mitarbeiterversorgung wie Supervision, Weiterbildungen, Interaktionsanalysen, emotionale Versorgung und Liniengespräche – eine so erstaunliche Menge, dass sie bei einigen im Team bereits für Erstaunen sorgte, weil ihnen nebst 31 Prozent Administrationsarbeit noch gerade 38 Prozent der Zeit für die direkte Arbeit mit den jungen Frauen bleiben. Für Wolschendorf hingegen ist das kein Luxus, im Gegenteil: «Unsere Arbeit mit dem Ansatz von Traumapädagogik und Transaktionsanalyse ist so herausfordernd, dass eine gute Mitarbeiterversorgung absolut unerlässlich ist.»
Die Liniengespräche auf allen Ebenen sind wichtige Bestandteile dieser Versorgung: «Sie helfen, kontinuierlich die Ziele im Blick zu behalten, weit besser, als das bei jährlichen Mitarbeitergesprächen je möglich wäre.» Denn diese rund einstündigen Gespräche finden so regelmässig statt, dass anstehende Themen nicht lange liegenbleiben und anwachsen, sondern immer wieder ins Bewusstsein geholt werden. Und sie finden – daher der Name – über die ganze Linie statt: Der Vorstand trifft sich sechsmal jährlich zu Gesprächen mit Heimleiterin Nicole Wolschendorf zu einem Liniengespräch, diese wiederum trifft sich alle sechs bis acht Wochen mit der Elternbegleiterin, dem Therapeuten, der Hauswirtschafterin und der Gruppenleiterin – wobei sie sich mit ihrer Stellvertreterin Barbara Helfer, die im Büro nebenan sitzt, ohnehin fast täglich austauscht. Diese wiederum führt als Gruppenleiterin alle drei Wochen Liniengespräche mit den Teamfrauen aus dem Kernteam. «Was ist deine Rolle im Team?» oder «Was brauchst du gerade?» seien Einstiegsfragen, die rasch auf die wichtigen Anliegen hinführen. Sie fragt die Teamfrauen regelmässig nach der Situation im Team, nach aktuellen Themen und Aufgaben, aber auch nach der eigenen inneren Sicherheit und Resilienzfaktoren: Wie finden sie einen Ausgleich zur Arbeit? Können sie Kraft aus Familie oder Natur ziehen, oder können sie sich zurückziehen und meditieren?
Daneben finden auch Mitarbeiterziele, verschiedene anliegende Themen oder offene Aufgaben Platz. Barbara Helfer schätzt den regelmässigen Austausch mit den Teamfrauen und achtet darauf, jeweils auch die Resilienzfaktoren oder hilfreiche Rituale zu dokumentieren. Dank diesen Gesprächen verbringe sie immer wieder eine Stunde im Eins-zu-Eins-Gespräch, erklärt sie: «So verliere ich kein Teammitglied aus den Augen, weiss immer, wo sie stehen, und kann auch nachfragen, ob sich anstehende Themen geklärt haben.» Der Drei-Wochen-Abstand sei ein guter Rhythmus, um nachzuhaken und zu beobachten, wie sich etwas entwickelt.
So ist der Puls gut fühlbar
Die Teamfrauen ihrerseits führen seit 2016 ebenfalls mit den ihnen zugeteilten jungen Frauen ein kurzes Liniengespräch, und zwar wöchentlich. Dabei gehen sie unter anderem organisatorische Informationen durch, besprechen aber auch Fragen rund um die persönliche Befindlichkeit, die Situation in der Gruppe oder zu Hause und die momentane innere Sicherheit der jungen Frauen. Und, Nicole Wolschendorf lacht fröhlich: Die jungen Frauen erhalten bei diesem Anlass ihr wöchentliches Taschengeld ausbezahlt. «Damit machen wir auch jenen diese Gespräche schmackhaft, die sie nach einer Weile etwas mühsam finden.» Auslassen möchte sie die Liniengespräche auch dann nicht wenn die jungen Frauen nicht immer hell begeistert sind, denn so sei der Puls immer gut fühlbar.
Dank den Liniengesprächen bekommen die Heimleiterin und ihre Stellvertreterin auch schnell mit, wenn etwas anliegt: In den beiden Liniengesprächen mit der Elternbegleiterin und dem Familientherapeuten hat Nicole Wolschendorf letzthin herausgefunden, dass es wichtig ist, nebst den Einzelgesprächen auch ein gemeinsames Gefäss für die beiden zu schaffen. Und gleich in mehreren Liniengesprächen, die Barbara Helfer mit den Teamfrauen führte, stellte sich heraus, dass die gleichzeitigen Weiterbildungen in Transaktionsanalyse, Traumapädagogik und Psychiatrie einigen neben der täglichen Arbeit zu happig sind. Deshalb entwarf die Heimleiterin zusammen mit ihrer Stellvertreterin für die nächste Struktursitzung ein Plakat mit sämtlichen Aufgaben 2023 – und strich kurzentschlossen für dieses Jahr Traumapädagogik und Psychiatrie von der Weiterbildungsliste. Dadurch versucht Nicole Wolschendorf, die Komplexität des Alltags zu mindern und die Zufriedenheit zu steigern. Sie schmunzelt. «Jetzt fehlt das einigen bereits.» Auch die aufwendigen, von einigen als überflüssig empfundenen Standortberichte hat sie vorerst versuchsweise gestrichen, und gleichzeitig die jährliche «Rose-Reise» und Erlebniswochenenden neu als freiwillig erklärt.
Auch hier merkte sie: «Zu viele Vorgaben schränken die Freiräume ein und mindern die Motivation. Seitdem die Wochenenden auf freiwilliger Basis stattfinden, möchten alle gern mitgehen.» Wichtig findet Nicole Wolschendorf: Solche Anpassungen zeigen den Mitarbeiterinnen, dass sie gehört werden und etwas bewirken können. Ebenso wichtig sei aber auch, ständig dranzubleiben und in den folgenden Liniengesprächen nachzufragen: «Wie geht es dir jetzt mit diesen Änderungen?» Denn so hilfreich es sei, dass alle sagen können, wie sie sich fühlen: Die grosse Herausforderung sei, dabei die Balance zu finden zwischen «rasch und agil reagieren» und «kopflos Änderungen einführen», damit die Teams nicht von ständigen Wechseln überfahren werden.
Das Gefühl, gesehen zu werden
Tatsächlich werden die Liniengespräche in den Teams sehr geschätzt: Sozialpädagogin Marion Ammann findet, sie seien wichtige Gefässe zum Sortieren und Austauschen. «Und sie zeigen mir, dass ich als Person wahrgenommen werde und ein Mitspracherecht habe.» Auch Annika Küng, die als Aushilfe in der Betreuung mithilft, schätzt sehr, dass sie so gehört wird: «Das gibt mir das Gefühl, dass ich nicht auf mich allein gestellt bin, und vermittelt ein Stück Menschlichkeit und Echtheit in der Arbeitswelt.»
Solche Rückmeldungen bestärken Nicole Wolschendorf darin, dass die Liniengespräche letztlich auch bewusstseinsfördernd für das ganze Team wirken. Das wiederum zeige einen klar spürbaren positiven Effekt: «Je besser alle in ihrer Mitte sind, desto ruhiger läuft der Alltag.» Sie überlegt kurz, dann bringt sie es auf den Punkt: «Die Liniengespräche stellen den roten Faden im ganzen Betrieb dar.»
Auf dem Bild: Gruppenverantwortliche Barbara Helfer (links) in einem der regelmässigen Liniengespräche mit Sozialpädagogin Marion Ammann.
Foto: cw