Eine geglückte Inklusion erfordert bessere Daten
Die Gleichstellung mit Menschen ohne Behinderung: Das fordert die Inklusions-Initiative für 1,7 Millionen Menschen, die mit einer Behinderung leben. Doch diese hohe Anzahl Betroffener basiert auf wackliger Grundlage. Um Betroffene gezielt in der Gleichstellung unterstützen zu können, fehlen kohärente aktuelle Daten.
In der Inklusions-Initiative stellt Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, klare Forderungen auf. So soll die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen erfolgen, und zwar auch mit dem Einsatz personeller Assistenz und technischer Mittel. Menschen mit Behinderung sollen überdies das Recht haben, Wohnform und Wohnort ihrer Wahl mithilfe von Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen frei wählen zu können.
Doch welche Menschen benötigen am dringendsten eine verbesserte Gleichstellung? Für wie viele Menschen müsste die Wahl der Wohnform und des Wohnortes ermöglicht werden? Zudem, betrifft es tatsächlich 1,7 Millionen Menschen mit Behinderung, die gemäss Initiativ-Komitee davon profitieren könnten?
Umfrage mit wenig präzisen Parametern
Die 1,7 Millionen sind nicht aus der Luft gegriffen. «Wir verlassen uns hier auf die offiziellen Daten des Bundesamts für Statistik (BFS)», sagt dazu Jonas Gerber, Kommunikationsverantwortlicher von Inclusion Handicap. Auf der BFS-Webseite «Menschen mit Behinderungen» wird diese Zahl aus unterschiedlichen Statistiken zusammengeführt. Der umfangreichste Datensatz mit 1,489 Millionen betrifft Menschen ab 15 Jahren, die in einem Privathaushalt leben. Zustande kommt diese Zahl als Hochrechnung respektive als Schätzung subjektiver Angaben, die 2020 telefonisch bei zirka 18 000 Personen erhoben wurden.
In Gespräch für diese europaweit standardisierte «Statistics on Income and Living Conditions» (Silc) geben die Befragten zu ihrem Einkommen und Lebensbedingungen Auskunft. Es ist eine komplexe Befragung, die über eine Stunde in Anspruch nimmt.
Wie Martin Camenisch. BFS-Mitarbeiter für die Silc-Erhebung, dazu ausführt, wird eine Beeinträchtigung attestiert, wenn jemand in dieser Befragung äussert, dass er oder sie ein chronisches gesundheitliches Problem hat, das seit mindestens einem halben Jahr andauert. Zudem müssen dadurch alltägliche Aktivitäten eingeschränkt sein. Und Camenisch betont, dass diese Definition nicht zu vergleichen ist mit jener von Sozialversicherungen wie der Invalidenversicherung.
Die Hochrechnung der Daten der befragten 18 000 Personen auf 1,489 Millionen sei bei solchen Erhebungen üblich. Allerdings muss bei der Befragung von 2020 eine Fehlerquote von plus/minus 67 000 Personen berücksichtigt werden, somit kann die Schätzung um 134 000 Personen danebenliegen. Die zusätzlich 52 000 Kinder (bis 14 Jahren) mit einer Beeinträchtigung stammen aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung von 2017. An dieser Erhebung wurden 22 134 erwachsene Personen aus dem Stichprobenrahmen für die Personen- und Haushaltserhebungen (SRPH) befragt; das Ergebnis wurde dann wiederum auf die Schweizer Bevölkerung hochgerechnet.
Keine aktuellen Daten aus Institutionen
Die weiteren Datensätze, die sich schliesslich zu den 1,7 Millionen Menschen mit Behinderung addieren, stammen aus der Somed-Statistik, einer aufwendigen Erhebung bei den Kantonen zu ihren sozialmedizinischen Institutionen in den Bereichen Behinderung und Alter. Für die Behinderteninstitutionen wurde diese Statistik letztmals 2015 vom BFS zusammengetragen. Daraus geht hervor, dass 44 308 Menschen mit Behinderung – Suchtkranke und Personen mit psychosozialen Problemen ausgenommen – von einer Institution betreut und begleitet werden. Davon lebten 25 512 Menschen auch tatsächlich in den Institutionen. Die anderen 18 796 Menschen wohnten auswärts, nutzten aber Arbeitsmöglichkeiten in Integrationsbetrieben oder Angebote in Tagesstätten. Inkludiert in der Zahl von 1,7 Millionen Menschen sind zudem auch die 123 258 Personen, die 2019 in einem Alters- und Pflegeheim wohnten.
Die 1,7 Millionen Menschen stammen also aus verschiedenen Quellen und aus grundsätzlich unterschiedlichen Statistiken. Der grösste Anteil kommt durch eine direkte Befragung zur eigenen Person oder zur Einschätzung von Eltern über ihre Kinder zustande, der kleinere Teil durch eine objektive Erfassung von Menschen in sozialmedizinischen Institutionen. Zudem stammen die Daten aus unterschiedlichen Jahren, wobei die subjektiven Daten am ehesten die Gegenwart beleuchten, während die objektiven Daten der Somed-Statistik zu Menschen mit Behinderung bereits etliche Jahre alt sind.
Dass die Somed-Statistik zu den Behinderteninstitutionen nicht auf dem neusten Stand ist, rügte Ende 2016 der damalige Zuger Ständerat Joachim Eder (FDP), dem als ehemaliger Gesundheitsdirektor diese Angaben für die Planung der kantonalen Angebote für Menschen mit Behinderung fehlten. Er verlangte in einer Motion bessere statistische Angaben von allen Leistungserbringern zuhanden der Kantone respektive zuhanden des BFS, um eine koordinierte gesamtschweizerische Versorgung zu ermöglichen.
Der Bundesrat wehrte sich gegen eine Wiederaufnahme der 1998 eingeführten Statistik. Mit dem Hauptargument, so Bundesrat Alain Berset, dass im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) von 2008 die Kantone mit der stationären Unterstützung von Menschen mit Behinderung in die Pflicht genommen wurden. Mit 19 zu 16 Stimmen nahm der Ständerat die Motion zwar an, doch der Nationalrat lehnte sie klar ab, womit die Motion erledigt war.
Eingeschränkte IV-Statistik
So wie die BFS-Statistik von 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen wohl zu hoch gegriffen ist, so ergibt jene der Invalidenversicherung (IV) mit total 220 458 Versicherten im Jahr 2022 ein eingeschränktes Bild. Eine IV-Rente erhält man ab dem 18. Altersjahr bis zum Rentenanspruch mit spätestens 65 Jahren, danach werden die IV-Beiträge über die AHV abgerechnet. Die IV ist als Erwerbsersatz gedacht, falls eine Behinderung die Erwerbstätigkeit erschwert oder verunmöglicht. Kinder mit einer Behinderung sind also ausgenommen. Menschen, die ab Geburt eine Behinderung aufweisen, erhalten im Erwachsenenalter eine sogenannte ausserordentliche IV-Rente. Letztes Jahr betraf dies 27 539 Personen. Menschen mit Behinderung, die als Folge ihres tiefen IV-Grades oder einer Anstellung im allgemeinen Arbeitsmarkt keine IV-Rente beziehen, erscheinen in den Statistiken der IV nicht.
Für eine wirksame Umsetzung der Inklusions-Initiative fehlen aber nicht nur verlässliche Zahlen zu den Betroffenen. Auch zum Grad der Einschränkung oder zur Art der Behinderung fehlen aussagekräftigen Daten, um gezielt Massnahmen dort zu ergreifen, wo sie am nötigsten wären oder wo möglichst viele Personen davon profitieren könnten. Die differenziertesten Angaben waren in der Somed-Statistik zu finden, mit Unterscheidung der Behinderung zwischen leicht, mittel und schwer sowie der Auflistung, ob eine körperliche, psychische, geistige oder eine Sinnesbehinderung vorliegt. Die IV-Statistik unterscheidet zwischen sechs Behinderungsursachen: Geburtsgebrechen, psychische oder nervliche Krankheiten, Krankheiten der Knochen und Bewegungsorgane, Unfall und andere Krankheiten. Die Schweregrade leicht, mittel und schwer listet die IV nur für die zusätzliche Hilflosenentschädigung auf, da der Behinderungsgrad für die Entschädigungshöhe massgebend ist.
««Ohne solide Datengrundlage agiert der Bund in der Behindertenpolitik im Niemandsland.» Joachim Eder, AltStänderat (ZG, FDP)
Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) ist nach wie vor überzeugt, dass es dem Bund obliegt, die Daten auf nationaler Ebene zu erstellen. SODK-Generalsekretärin Gaby Szöllösy meint dazu: «Der Bund trägt die Kompetenz für die nationale Erhebung. Die Kantone liefern die Daten und unterstützen das BFS in dieser Angelegenheit, da eine interkantonale Statistikbehörde fehlt.» Deshalb erwartet die SODK, dass der Bund den rechtlichen Rahmen für eine Statistik über die Wohn- und Arbeitssituation von Menschen mit Behinderung schafft. Szöllösy setzt nun ihre Hoffnung auf die geplante Revision der eidgenössischen Behindertenpolitik: «Gespannt warten wir darauf, dass der Bundesrat im Dezember 2023 einen Schritt in diese Richtung macht.»
Andreas Rieder, Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) vertritt im Einklang mit Bundesrat Alain Berset die Meinung, dass es Aufgabe der Kantone sei, gute Daten zu erheben. Im Rahmen des Schwerpunktes der Bundes-Behindertenpolitik 2023 – 2026 zur Förderung des selbstbestimmten Wohnens sollen die Beschaffung und die Art der dazu nötigen Daten erörtert werden. Das Programm, das dann eine Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes mit sich zieht, soll Ende 2023 in die Vernehmlassung gehen.
Verhältnismässige Massnahmen
Bei einer Annahme der Inklusions-Initiative ist eine kohärente Datenlage über die Lebens- und Wohnsituation von Menschen mit Beeinträchtigung unerlässlich. Die Forderungen der Initiative nach der Gleichstellung in allen Lebensbereichen und nach der freien Wahl von Wohnort und Wohnform sind nämlich verknüpft mit dem Zusatz, dass diese im «Rahmen der Verhältnismässigkeit» zu erfüllen sind. Es ist ein Zusatz, der, so Jonas Gerber von Inklusion Handicap, im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes, Art. 11, verstanden wird. Als verhältnismässig gilt hier, wenn eine Massnahme in keinem Missverhältnis zum wirtschaftlichen Aufwand, zu Interessen des Umwelt- und Heimatschutzes sowie zu Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit steht. Verlässliche Daten bieten erst die Grundlage, um entscheiden zu können, welche Massnahmen mit welchen Mitteln verhältnismässig sind.
Diese Daten hält Alt-Ständerat Joachim Eder nach wie vor als unabdingbar für eine künftige Planungsgrundlage. 2017 formulierte er dies im Rat so: «Ohne solide Datengrundlage agiert der Bund in der Behindertenpolitik im Niemandsland.» Für ihn steht fest: «Die Diskussion um die Inklusions-Initiative zeigt, dass nun diese wichtigen Daten fehlen.»
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