ETHISCHE FRAGEN | Herausforderndes Verhalten anders angehen
Herausforderndes Verhalten kann massiv stören und zu Selbst- und Fremdgefährdung führen. Deshalb stehen Betreuende oft vor dem ethischen Dilemma, wider ihre Überzeugungen freiheitseinschränkende Massnahmen zu ergreifen. Zwei Fachpersonen vom Epi-Wohnwerk zeigen andere wirkungsvolle Massnahmen auf.
Wir alle sind ihnen im Berufsalltag schon begegnet: Situationen, in denen wir unsicher sind, welcher Ansatz richtig ist. Situationen, in denen wir mit Handlungsaufforderungen konfrontiert werden, deren Angemessenheit wir in Zweifel ziehen, weil sie nicht mit unserer Berufsethik einhergehen. Meist geht es dabei um betreute Personen, deren Verhaltensweisen so gar nicht mit der aktuellen Situation zusammenpassen. Diese Verhaltensweisen können wir eindeutig als «herausfordernd» identifizieren, da sie uns meist auffordern, eine Anpassung in der Beziehungsgestaltung vorzunehmen.
«Freiheitseinschränkende Massnahmen allein haben weder eine günstige Wirkung auf die Ursachen von herausfordernden Verhaltensweisen noch auf die Entwicklung des betroffenen Menschen.»
Im Gespräch mit Stefania Calabrese, Dozentin und Projektleiterin am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern, Soziale Arbeit, wird aber deutlich, wie umfassend und multiprofessionell wir herausfordernde Verhaltensweisen in der Praxis angehen müssen.
Stefania Calabrese hat sich im Rahmen mehrerer bedeutsamer Forschungsprojekte mit dem Thema auseinandergesetzt und mit ihrem Team wichtige Entscheidungshilfen für die Praxis erarbeitet. Dabei hat sie festgestellt: «Freiheitseinschränkende Massnahmen allein haben weder eine günstige Wirkung auf die Ursachen von herausfordernden Verhaltensweisen noch auf die Entwicklung des betroffenen Menschen.» Sie empfiehlt stattdessen einen entwicklungsorientierten Zugang, der interdisziplinär angelegt und begleitet wird. Und sie ruft dazu auf, den Blick auf das System zu richten: Dieses sei Ursache für herausfordernde Verhaltensweisen und zugleich ein Gelingensfaktor für den Umgang damit. «Wichtig ist die konsequente Forderung nach einer angemessenen medizinischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigung.»
Die Ergebnisse ihrer Forschung zeigen, dass insbesondere (päd-)agogisch-psychologisch fundierte Ansätze unterstützend wirken können, zum Beispiel «Banking Time» (regelmässige gemeinsame Zeitfenster), «Low Arousal» (Vermeiden von Spannungssituationen) oder «Positive Verhaltensunterstützung» (Orientierung an Ressourcen). Sie plädiert für eine Strategie, die alle an der Begleitung beteiligten Personen befähigt, und zwar auf allen hierarchischen Ebenen.
Die grosse Frage lautet: Wieso fühlen wir uns durch herausfordernde Verhaltensweisen herausgefordert? Ist es das eigene Ohnmachtsgefühl und der Verlust einer klaren Handlungsrichtung? Oder ist es das Verhalten an sich, zusammen mit den scheinbar alternativlosen freiheitseinschränkenden Massnahmen, die wir solchem Verhalten oftmals folgen lassen?
Grenzverletzend und gefährlich
Fangen wir weiter vorne an: Die Bezeichnung «herausforderndes Verhalten» umschreibt ein Verhalten, das als ausserhalb der Norm in Bezug auf Lebensalter und soziale Umgebung wahrgenommen wird. Es ist oft grenzverletzend, manchmal gefährlich und risikobehaftet und immer auffällig. Es greift oft die körperliche und psychische Unversehrtheit der direkt betroffenen Personen an, aber auch deren Umfeld, und es zwingt oft zum unmittelbaren Handeln. Wir sind dabei mit Verhaltensvarianten konfrontiert wie sich schlagen, sich beissen, treten, mit Kot schmieren, spucken, schreien, den Kopf an die Wand schlagen und vielen weiteren. Sie alle können eine Selbst- und Fremdverletzung bewirken – und sie machen oft aus ein und derselben Person Opfer und Täterin oder Täter zugleich. Diese Verhaltensweisen können das soziale Zusammenleben massiv beeinträchtigen und unbeteiligte Personen ängstigen und irritieren.
«Das heisst, wir greifen zu Massnahmen, die unter besseren Bedingungen vielleicht nicht nötig wären.»
Solche Situationen erfordern deshalb klare Handlungsanleitungen, damit alle Anwesenden angemessen begleitet werden können und damit die Sicherheit aller gewährleistet ist. Manchmal bedeutet das den Einsatz von freiheitseinschränkenden Massnahmen. Und das führt oft zur eingangs erwähnten Unsicherheit.
Dass solche Verhaltensweisen als «Krise» gewertet werden und selten als «logische» oder «normale» Antwort auf ungenügende Kommunikations- und Lebensbedingungen, ist vielleicht ein Grund für das ethische Dilemma rund um die Anwendung solcher Massnahmen: Das Wissen um die unzureichenden Lebensbedingungen ist innerhalb der Berufsdisziplin durchaus vorhanden. Das heisst, wir greifen zu Massnahmen, die unter besseren Bedingungen vielleicht nicht nötig wären.
Wann kann es also vertretbar und «richtig» sein, jemanden örtlich zu beschränken, im Bett zu fixieren, Sozialkontakte zu limitieren, den Zugang zur Küche zu verwehren oder den Zugang zum eigenen Besitz an Bedingungen zu knüpfen? Und: Kann sich ein Mensch, der solchen Massnahmen ausgesetzt ist, noch weiterentwickeln? Wie gelingt es, eine entwicklungsfreundliche Umgebung zu gestalten für Menschen, die lebenslang entwicklungsfähig und auf Entfaltung ausgelegt sind, wie das die Entwicklungsfreundliche Beziehung (EfB) nach Senckel beschreibt? Wie kann Lebensqualität erfahrbar gemacht werden? Und nicht zuletzt: Wie entwickelt sich professionelle Beziehungsarbeit unter solchen Bedingungen?
(K)ein hoffnungsloser Fall?
Tatsächlich gibt es in der Praxis diverse Konzepte und Herangehensweisen, die den Einsatz von freiheitseinschränkenden Massnahmen ablösen können. Mögliche Ansätze zeigen wir in der Geschichte des fiktiven Jan: Dieser trat 2022 im Alter von knapp 20 Jahren nach zwei Jahren Aufenthalt in der Psychiatrie ins Wohnhaus 21 mit Tagesstruktur ein. Seit dem 12. Altersjahr hatte er in unterschiedlichen Institutionen gelebt, überall wurde sein Betreuungsbedarf als «rahmensprengend» eingestuft, und der Platz wurde gekündigt.
Jan ist von einer schweren kognitiven Beeinträchtigung betroffen, seine Sprache besteht aus der Wiederholung von immer gleichen Ein- und Zweiwortsätzen. Möchte er etwas, zeigt er darauf, Ablehnung tut er durch Kopfschütteln oder Weglaufen kund. Lässt man ihn alleine, läuft er meist ziellos umher, räumt alles aus, zerreisst alles, was er findet, und scheint sich nicht länger als zwei Minuten auf etwas konzentrieren zu können. Hört er Musik, hält er inne und wippt im Takt mit, beschränkt man seine Mobilität, baut er mit Legosteinen einfache Türme.
Auffallend ist: Je älter Jan wurde, desto herausfordernder wurde sein Verhalten, und entsprechend nahmen auch die freiheitseinschränkenden Massnahmen und der Einsatz von Medikamenten zu.
Massive Einschränkungen
Auch selbstverletzendes Verhaltensweisen wie sich beissen, den Kopf an die Wand schlagen oder sich die Haare ausreissen steigerten sich signifikant, während andere Verhaltensweisen wie Kot schmieren, treten, spucken, schreien oder davonlaufen relativ stabil blieben. Dafür verletzte Jan immer mehr Betreuungspersonen: Gebrochene Nasen, Finger und Jochbeine, tiefe Bisswunden und Prellungen waren dokumentiert.
Deshalb war Jans Tagesablauf in der Psychiatrie voller Einschränkungen:
- Jan trug einen Overall den er nicht selbst öffnen konnte, um das Kotschmieren zu verhindern.
- Jan trug geschlossene Einlagen, da er mit dem Overall nicht selbst auf die Toilette konnte und es immer zu «Unfällen» kam. Er wurde siebenmal täglich auf die Toilette begleitet und dort überwacht, damit er nicht in die Toilette fassen konnte.
- Jan trug einen Helm, damit er sich keine Haare mehr ausreissen konnte, zudem waren die Haare kurz geschnitten, damit er sie schlecht greifen konnte.
- Jan verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer: Seine Lautstärke und seine Übergriffe auf Personal und Mitbewohnende verunmöglichten einen unbetreuten Aufenthalt an Orten, wo sich andere Menschen aufhalten.
- Jan ass alle Mahlzeiten in seinem Zimmer, sie wurden für ihn bestellt und mundfertig dargereicht.
- Jan lebte mit unzähligen Regelungen, auf die er wenig bis keinen Einfluss hatte, sein Alltag war geprägt von freiheitseinschränkenden Massnahmen.
Potenzial erkennen
Beim Eintritt ins Wohnhaus 21 bekam Jan einen Wohnplatz in einer Wohngruppe für Menschen mit dauerhaft herausfordernden Verhaltensweisen, wo er im Setting 1:1 und in Krisen 2:1 oder noch höher betreut wird. Als das Team der Wohngruppe Jan kennenlernte, richteten sie ihren Blick auf seine Fähigkeiten und seine Bedürfnisse bezüglich Kommunikation, Beziehungs- und Umgebungsgestaltung. Tatsächlich zeigte Jan diverse Fähigkeiten: Er ist sehr musikalisch, bewegt sich rhythmisch zu Hip-Hop und klatscht dazu in die Hände, und mit einer Trommel oder Rassel in der Hand beruhigt er sich sichtbar. Im Alltag werden deshalb täglich zwei Sequenzen eingeplant, in denen das Betreuungspersonal mit Jan musiziert.
Hin und wieder sucht er sich vor den Spaziergängen ein Instrument aus, meistens eine Rassel. Diese tauscht er problemlos gegen seinen Znüni oder Zvieri aus, und sobald er gegessen hat, zeigt er auf die Tasche und erhält das Instrument zurück: Eine erfolgreiche Kommunikation hat stattgefunden.
Jan ist zudem in der Lage, mit beiden Händen Duplo-Legosteine zusammenstecken. Er sucht sich immer die gleichen Farben aus der Schublade. Die Betreuungspersonen setzen sich zu Jan auf die Matte und beschreiben in einfachen Sätzen, was Jan und sie selbst tun. «Jetzt nehme ich ein blaues Lego», oder: «Du steckst ein gelbes oben auf den Turm.» Jan hält oft inne und scheint zuzuhören. Bittet man ihn um einen Legostein, gibt er ihn weiter und klatscht in die Hände, wenn man sich bedankt. Seit einigen Wochen hat er angefangen, selbst auf Steine zu zeigen, und nimmt sie freudig entgegen: Aus dem Nebeneinander wird allmählich ein Miteinander.
«Die Teammitglieder arbeiten konsequent mit Gebärdenunterstützter Kommunikation und Piktogrammen.»
Bisher war Jan kaum in seinen Tagesablauf miteinbezogen worden. Das Betreuungspersonal im Haus 21 bietet ihm jetzt mit drei Fotos (Marmeladenbrot, Birchermüesli oder Cornflakes) die Möglichkeit, sein Frühstück und den Ort, wo er frühstücken möchte, selbst zu wählen. Die Mitarbeitenden beobachten ihn in seiner verbalen und nonverbalen Kommunikation. Bemerken sie kleine Veränderungen im Verhalten, die als Stressreaktion interpretiert werden könnten, drücken sie ihre Beobachtungen Jan gegenüber aus und bieten ihm andere Möglichkeiten an. So erfährt Jan, dass seine Umgebung darauf achtet, ob es ihm gut geht, und dass keine Eskalation nötig ist, um seine Situation zu verändern.
Die Teammitglieder arbeiten konsequent mit Gebärdenunterstützter Kommunikation und Piktogrammen. Die laminierten Piktogramme liegen auch in seinem Zimmer zur freien Verfügung, hin und wieder schaut er sie an, manchmal kaut er auf ihnen. Was defekt ist, wird gemeinsam mit ihm entsorgt und danach ersetzt. Jan nutzt die Piktogramme noch nicht, ahmt aber einzelne Gebärden nach, wenn das Betreuungspersonal mit ihm spricht.
Fortschritte und Ausblick
Dementsprechend hat Jan seit seinem Eintritt ins Wohnhaus 21 viele Fortschritte gemacht. Nach wie vor trägt er Overall und Helm. Aber die Zeiten und Situationen ohne beides können langsam gesteigert werden. Dank der entwicklungs- und systemorientierten Betreuung haben sich Situationen mit herausfordernden Verhalten und der Einsatz von freiheitseinschränkenden Massnahmen deutlich reduziert. Momentan hat man die medikamentöse Versorgung noch unverändert gelassen. Dem Betreuungsteam ist es wichtig, die Erfahrungen in unterschiedlichen Alltagssituationen interdisziplinär zu reflektieren und stetig anzupassen.
Alle sind gespannt, wohin Jans Entwicklung führt: Das Ziel, seinen Alltag künftig ohne freiheitseinschränkende Massnahmen zu gestalten, scheint greifbar zu sein.
Unsere Gastautoren
Rahel Huber und Claudio Kaiser. Rahel Huber ist diplomierte Sozialpädagogin und Bildungsbeauftragte Sozialpädagogik bei ARTISET Weiterbildung. Claudio Kaiser ist diplomierter Sozialpädagoge, arbeiten beide im Epi-Wohnwerk in Zürich.
Foto: Adobe Stock