EFAS | «Einheitliche Finanzierung stärkt die Pflege»

16.10.2024 Kathrin Morf & Elisabeth Seifert

Für Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin von Spitex Schweiz, und ARTISET-Geschäftsführer Daniel Höchli steht fest: Die Vorlage zur einheitlichen Finanzierung stärkt die integrierte Versorgung über die ganze Behandlungskette, dämpft das Kostenwachstum und ermöglicht den Leistungserbringern im Bereich der Pflege erstmals, gemeinsam mit Versicherern und Kantonen Tarife zu verhandeln.

Magazin ARTISET / Spitex Magazin: Frau Pfister, Herr Höchli: Die Befürworter der einheitlichen Finanzierung, wozu auch Spitex Schweiz und ARTISET gehören, betonen, dass damit Fehlanreize im Gesundheitssystem eliminiert werden. Welche Fehlanreize sind das?

Daniel Höchli: In der ambulanten Medizin zahlen heute die Versicherer und somit die Prämienzahlenden 100 Prozent der Rechnung. In der stationären Medizin hingegen bezahlen die Prämienzahlenden nur 45 Prozent der Rechnung und die Kantone 55 Prozent. Versicherer und Versicherte haben damit wenig Interesse an der ambulanten Behandlung, weil es für sie teuer wird, selbst wenn die Rechnung im ambulanten Bereich insgesamt günstiger ausfällt als im stationären Bereich.
 

Gibt es solche Fehlanreize auch im Bereich der Pflege?

Marianne Pfister: In der ambulanten Pflege zahlen die Versicherer höhere Ansätze pro Pflegestunde als in der stationären Langzeitpflege. Die Pflegestunde im Pflegeheim ist für den Krankenversicherer also günstiger als eine Stunde Spitex. Deshalb haben wir hier auch einen gewissen Fehlanreiz.

Höchli: Dieser Fehlanreiz betrifft auch das betreute Wohnen: Hier wird ja auch ambulante Pflege erbracht. Im heutigen Finanzierungssystem kann es dann für die Versicherer schnell einmal teurer werden als im Pflegeheim. Es kommt vor, dass Leistungserbringer, die sowohl betreutes Wohnen also auch Pflegeheimplätze anbieten, von den Versicherern aufgefordert werden, eine Person nicht mehr im betreuten Wohnen zu begleiten, sondern im Pflegeheim.
 

Wie verhindert die einheitliche Finanzierung solche Fehlanreize?

Pfister: Es gibt neu einen einzigen Kostenteiler zwischen Versicherern und Kantonen – in der Medizin genauso wie in der Pflege und egal, ob eine Leistung ambulant oder stationär erbracht wird. Im Unterschied zu heute haben die Finanzierer damit einen Anreiz, die integrierte Versorgung voranzubringen – also die Zusammenarbeit aller Leistungserbringer wie Hausärzteschaft, Spitäler, Heime, Spitex oder auch Therapeutinnen und Therapeuten zu stärken. Damit stehen die Menschen mit ihrem Versorgungsbedarf im Zentrum und werden dort gepflegt oder behandelt, wo es am besten für sie ist. Zudem werden Doppelspurigkeiten vermieden und die Kosten optimiert.
 

Verändert sich die Pflegelandschaft durch die einheitliche Finanzierung?

Höchli: Die einheitliche Finanzierung schafft Kostentransparenz. Man sieht dann etwa, wann die Pflege zu Hause eben doch teurer wird, zum Beispiel aufgrund der Wegkosten. Mit der einheitlichen Finanzierung werden die Kostenvorteile des betreuten Wohnens noch verstärkt: Aufgrund geringerer Wegkosten bestehen Vorteile gegenüber der ambulanten Pflege. Und aufgrund geringerer Infrastrukturkosten gibt es Vorteile gegenüber der stationären Langzeitpflege. Eine Stärkung des betreuten Wohnens ist dabei im Interesse der Bevölkerung: Diese  Wohnform ermöglicht Sicherheit und gleichzeitig Autonomie.

Pfister: Mit der einheitlichen Finanzierung wird es zu mehr ambulanten Operationen kommen, womit die nachbehandelnde Pflege zu Hause weiter zunehmen wird. Und zwar auch bei den Klientinnen und Klienten, die unter 65 Jahre alt sind. Die Pflege zu Hause ist kostengünstiger als im Spital, weil zu Hause die teuren Infrastrukturkosten wegfallen. Beim Entscheid, wo jemand behandelt oder gepflegt werden soll, muss indes immer auch das Wohl des Patienten oder der Patientin berücksichtigt werden.
 

Wird die einheitliche Finanzierung also zu tieferen Gesundheitskosten führen?

Höchli: Wir haben im medizinischen Bereich ein grosses Einsparpotenzial. In der Schweiz liegt der Anteil an ambulanten operativen Eingriffen, die günstiger sind als im Spital, bei ungefähr 20 Prozent. In Dänemark oder Schweden liegt der Anteil bei circa 50 Prozent. Mit der einheitlichen Finanzierung wird der Anteil an ambulanten Operationen steigen, was für alle Akteure zu einer Kostenminderung führt. Ohne diese Reform führt die Verschiebung von stationären zu ambulanten Eingriffen dazu, dass die Kantone stark entlastet werden, die Prämienzahlenden hingegen zusätzliche Kosten übernehmen müssen Das Einsparpotenzial wird vorsichtig auf bis zu 440 Millionen Franken pro Jahr geschätzt.
 

Die Gegner, allen voran die Gewerkschaft VPOD, die das Referendum ergriffen hat, prognostizieren aber einen Anstieg der Prämien. Was stimmt jetzt?

Höchli: Im medizinischen Bereich haben wir heute schon eine Verlagerung von stationär zu ambulant, was die Prämien im aktuellen Finanzierungssystem erhöht. In der Pflege hat der Bundesrat den Krankenkassenanteil gedeckelt, dafür steigen die Kosten für Kanton und Gemeinden, also der steuerfinanzierte Anteil. Mit der Integration der Pflege in die einheitliche Finanzierung haben wir zwei gegenläufige Effekte auf die Prämien: Einen positiven Effekt im medizinischen Bereich und einen negativen Effekt im Bereich Pflege. Der positive Effekt im medizinischen Bereich ist aber grösser als der negative Effekt in der Pflege. Der Gesamteffekt ist somit positiv.

Pfister: Kommt hinzu, dass die Pflege nicht der Haupttreiber für die Steigerung der Kosten ist: Der Anteil der Kosten der Spitex in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung OKP macht heute zum Beispiel nur drei Prozent des ganzen Kuchens aus. Aufgrund der demografischen Entwicklung und der Ambulantisierung werden diese Kosten zwar steigen, aber im Vergleich zu den Gesamtkosten weiterhin kein Kostentreiber sein. Zudem ist die einheitliche Finanzierung einfach ein Kostenteiler und sagt nichts über die Höhe der Kosten aus. Heute können wir aufgrund der fixierten OKP-Beiträge einzig mit den Kantonen in sehr begrenztem Ausmass die Restfinanzierung verhandeln. Neu wird es Tarifverhandlungen geben, für welche die Leistungserbringer mit den Versicherern und den Kantonen an einem Tisch sitzen.
 

Der VPOD empfiehlt auch deshalb ein Nein zur einheitlichen Finanzierung, weil sie eine Zweiklassenmedizin befürchten: Das Geld werde auch bei der Spitex und in den Heimen immer knapper, so dass nur noch gut versorgt wird, wer selbst genügend finanzielle Mittel hat. Was sagen Sie dazu?

Pfister: Diese Aussage macht keinen Sinn, denn die einheitliche Finanzierung tangiert die Versorgungspflicht der Leistungserbringer keinesfalls.

Höchli: Ich verstehe dieses Argument ebenfalls nicht. Die einheitliche Finanzierung führt nicht zu einer Veränderung der Regeln. Zweiklassenmedizin bedeutet, man hat auf weniger Leistungen Anspruch und muss zusätzliche Leistungen aus der eigenen Tasche zahlen. Die einheitliche Finanzierung tangiert den Leistungsanspruch in keiner Weise.
 

Aufgrund des finanziellen Drucks komme es zudem zu Einsparungen auf dem Buckel des Personals, behauptet der VPOD – und was sagen Sie?

Pfister: Dass die Leistungserbringer und damit auch die Pflege an den Tarifverhandlungen zur einheitlichen Finanzierung mitwirken, bedeutet eine Stärkung der gesamten Pflege. Die Finanzierer sind damit gefordert, gerade auch für eine angemessene, kostendeckende Finanzierung der komplexer werdenden Pflege zu sorgen. Die Förderung der koordinierten Versorgung stärkt die Pflege ebenfalls. Denn durch die Vermeidung von Doppelspurigkeiten werden dringend benötigte Ressourcen in der Pflege frei, die letztlich den Patientinnen und Patienten zugutekommen.
 

ARTISET und Spitex Schweiz ziehen oft an einem Strick und ganz besonders rund um die einheitliche Finanzierung. Wieso ist gemeinsame Engagement bei dieser Vorlage besonders wichtig?

Pfister: Die Finanzierung ist eine der grössten Herausforderungen des Gesundheitswesens. Die einheitliche Finanzierung wurde beinahe 15 Jahre diskutiert – und ist heute eine Vorlage, für die nahezu alle Akteure bereit sind, an einem Strick zu ziehen: Leistungserbringer, Kantone und Krankenversicherer. Wir müssen im Gesundheitswesen dringend etwas bewegen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir endlich mit der Umsetzung dieser äusserst breit abgestützten Reform beginnen können.

Höchli: Diese breite Allianz ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem Status Quo, mit dem die Fehlanreize bestehen bleiben und der Kostendruck umso stärker wachsen wird, und sie ist ein starkes Zeichen für die einheitliche Finanzierung. Diese wird nicht alle Probleme lösen. Aber sie bringt Ordnung ins System, und nur so können wir weitere Reformen anpacken.
 


Die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen

Heute werden ambulante Leistungen ausschliesslich von den Krankenversicherern finanziert. Bei den stationären Leistungen tragen hingegen die Kantone – und damit die Steuerpflichtigen – 55 Prozent der Kosten und die Versicherer – und damit die Versicherten – die verbleibenden 45 Prozent. Eine Sonderregelung gilt für Pflegeleistungen in Alters- und Pflegeheimen und zu Hause: Für sie leisten die Versicherer sowie die Klientinnen und Klienten begrenzte Kostenbeiträge, und die Kantone und / oder Gemeinden sind für die Restfinanzierung zuständig.

Mit der einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen werden diese drei Finanzierungssysteme durch ein einziges ersetzt: Alle Leistungen der Krankenversicherung werden neu mit demselben Verteilschlüssel finanziert: Mindestens 26,9 Prozent der Nettokosten tragen immer die Kantone und höchstens 73,1 Prozent die Versicherer. Für Pflegeleistungen entrichten die Patientinnen und Patienten weiterhin einen begrenzten, vom Bundesrat festgelegten Kostenbeitrag.

Im Dezember 2023 wurde die Vorlage, die auf einer parlamentarischen Initiative aus dem Jahr 2009 basiert, vom Parlament verabschiedet. Gemäss Fahrplan startet die einheitliche Finanzierung 2028 im Akutbereich. Ab 2032 gilt die neue Finanzierung dann auch für die Pflege.». Die Gewerkschaft VPOD ergriff das Referendum, weswegen nun das Stimmvolk über die einheitliche Finanzierung entscheidet – am 24. November 2024.

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