Das richtige Personal für komplexe Pflege
Der Fachkräftemangel und anspruchsvolle Pflegesituationen zwingen die Heime dazu, Pflegende dort einzusetzen, wo sie wirklich nötig sind. Der «Grademix-Konfigurator für die Langzeitpflege», ein gemeinsames Projekt der Berner Fachhochschule und der Besa Qsys AG, will die Heime dabei unterstützen.
In der Langzeitpflege generell und gerade auch im stationären Bereich werden Pflege und Betreuung der betagten Menschen immer anspruchsvoller. Die Betagten treten erst spät und entsprechend fragil in ein Pflegeheim ein. Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind multimorbid, wobei physische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Solche komplexen Bewohnersituationen können Pflegende überfordern, wodurch die Unzufriedenheit wächst – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihrem Beruf den Rücken kehren. Hinzu kommt, dass sich Pflegeheim-Trägerschaften und Kantone oft schwer damit tun, genügend Stellen auf dem erforderlichen Ausbildungsniveau zu bewilligen.
In diesem für die Pflegeheime und die Pflegenden schwierigen Umfeld verspricht ein Projekt Entlastung, das von Innosuisse, der schweizerischen Agentur für Innovationsförderung, mitfinanziert wird. «Grademix-Konfigurator» heisst das Zauberwort. Entwickelt wird dieser in Verlauf der nächsten gut zwei Jahre von der Berner Fachhochschule und der Besa Qsys AG, dem nationalen Kompetenzzentrum für die Ermittlung des Betreuungs- und Pflegebedarfs im Gesundheits- und Sozialbereich.
Der Grademix-Konfigurator werde «in der Schweiz den ressourcenorientierten Einsatz von Pflegenden revolutionieren» heisst es in den Projektunterlagen. Kurz zusammengefasst wird der Grademix-Konfigurator zum einen aufgrund von in den Pflegeheimen bereits erhobenen Routinedaten die Komplexität der Pflege- und Betreuungsbedürfnisse der Bewohnenden errechnen. Und zum anderen geht es dann darum, auf dieser Basis zu bestimmen, wie viel Personal auf der Sekundär- und der Tertiärstufe nötig ist, um die Bedürfnisse zu erfüllen.
«Es gibt derzeit keine Erhebung des Personalbedarfs, die auf der Erfassung von Daten zur Komplexität der Situation der Bewohnenden beruht, weder national noch international.»
Ein Bedürfnis der Praxis
«Es gibt derzeit keine Erhebung des Personalbedarfs, die auf der Erfassung von Daten zur Komplexität der Situation der Bewohnenden beruht, weder national noch international», unterstreicht Co-Projektleiterin Stefka Goldschmid die Bedeutung des Projekts. Sie ist Leiterin Besa-Schulungen und Pflegeentwicklung der Besa Qsys AG. Die beiden zentralen Elemente des Grademix-Konfigurators stellen denn auch die grossen Innovationsschritte dar. Die zwei entscheidenden Forschungsfragen lauten: «Welche Daten aus den Datensätzen der Bedarfserfassungsinstrumente Besa und Rai-NH zeigen die Komplexität der Pflege und Betreuung?» Und: «Welcher Personalbedarf auf den verschiedenen Ausbildungsstufen lässt sich daraus ableiten?»
Das Projekt ist aber kein reines Forschungsprojekt, sondern ein Projekt für und mit der Praxis, betonen Stefka Goldschmid und Co-Projektleitern Sabine Hahn aufseiten der Berner Fachhochschule. Hahn ist an der BFH Leiterin Fachbereich Pflege im Departement Gesundheit. Die Praxis, sprich: die Institutionen werden denn auch von Beginn weg und über die ganze Dauer des Projekts in die Entwicklung des Grademix-Konfigurators miteinbezogen.
Um herauszufinden, ob die Heime einen solchen Konfigurator überhaupt benötigen, haben die beiden Projektpartner im letzten Sommer eine Umfrage unter den Leitungspersonen von 1350 Institutionen durchgeführt, unter all jenen also, die zur Erhebung des Pflegebedarfs die Systeme Besa oder Rai-NH verwenden. Das sind alle Pflegeinstitutionen in der Deutschschweiz, im Tessin und zudem eine Reihe von Heimen in der Romandie.
Die Resultate lassen aufhorchen: Bei einem Rücklauf von rund 35 Prozent sehen knapp die Hälfte der Antwortenden einen mittleren bis sehr grossen Mehrwert des Grademix-Konfigurators. 80 Prozent geben an, dass ihnen die Komplexität der Bewohnersituationen zur Einschätzung des Personalbedarfs wichtig sei, diese Einschätzung zurzeit aber lediglich subjektiv erfolge. In ihren Bemerkungen fügen einige Teilnehmende an, dass der Grademix-Konfigurator nicht das Problem des Fachkräftemangels lösen könne, es aber sinnvoll sei, mittels des Konfigurators die Differenz zwischen dem Ist- und Soll-Zustand aufzuzeigen. Es brauche datenbasierte Argumente für Finanzierer, Politik und Behörden.
Über die Hälfte der an der Befragung teilnehmenden Institutionen sind denn auch bereit, den Grademix-Konfigurator einzusetzen – und knapp ein Viertel möchte sich in der Begleitgruppe an der Entwicklung des Projekts beteiligen.
Mehrwert ohne Mehraufwand
Die aktuelle Stellenplanung in den Pflegeheimen orientiere sich, so Goldschmid, wesentlich an indirekten Indikatoren wie den Vorgaben der Kantone und der Grösse der Institutionen, bestimmt durch die Anzahl bewilligter Betten. Auch die verschiedenen Schichten müssen über einen bestimmten Grademix verfügen. Wichtige Kriterien, wie die Komplexität der Situation der Bewohnenden, institutionelle Besonderheiten oder Spezialisierungen, etwa im Bereich Demenz oder Palliative Care, werden hingegen nur unzureichend berücksichtigt.
Die Stellenplanungstools der Systeme Besa oder Rai-NH berücksichtigen neben den behördlichen Vorgaben und institutionellen Besonderheiten auch den Pflegeaufwand, der durch die Krankenversicherungs-pflichtigen Leistungen entsteht. Die Summen der Pflegeminuten oder der Pflegestufe pro Bewohnerin oder Bewohner geben aber keine Auskunft darüber, wie komplex die Situation der Fälle ist.
Die Komplexität zeige sich, wie Goldschmid ausführt, in der Kombination der verschiedenen Ressourcen und Probleme in medizinischer und pflegerischer Hinsicht. Weitgehend vergessen gehe, dass wir es in den Pflegeheimen mit Menschen zu tun haben, die ein Leben gelebt haben, sagt Sabine Hahn. Es kann schwierig sein für Betagte zu akzeptieren, dass Kompetenzen verloren gehen oder sich verändern. Beispielsweise müssen neue Perspektiven entwickelt werden. Wenn dann noch Belastungen in der Familie entstehen und Uneinigkeit herrscht, können sehr rasch komplex zu handhabende Situationen entstehen.
Die Indikatoren respektive Kriterien, die auf eine komplexe Situation hindeuten, sind unter der Leitung von Sabine Hahn an der Berner Fachhochschule weitgehend erforscht worden. Die Herausforderung im Rahmen des Projekts bestehe, so die Pflegewissenschaftlerin, vor allem darin, inwieweit diese Indikatoren aus den in den Heimen erhobenen Routinedaten gebildet werden können. Der Grademix-Konfigurator wird mit diesen Daten «gefüttert» und errechnet dann mittels eines Algorithmus, ob die Situation eines Bewohnenden komplex ist oder nicht. Eine wichtige Aufgabe des Konfigurators sei es, wie Hahn und Goldschmid sagen, den Heimen einen Mehrwert zu bringen, ohne den Mehraufwand zu erhöhen.
Relevant für die Zusammensetzung des Personals ist, wie viele Bewohnendensituationen einer Station oder auch eines Heimes als «komplex» gelten. Zu berücksichtigen sei dabei, so Sabine Hahn, die durchschnittliche Komplexität einer Gruppe – und dann aber die Abweichungen davon. Die Berechnung des dafür adäquaten Personalbestandes ist die zweite grosse Herausforderung des Projekts. Hierbei werde man wesentlich auf Forschungen aus dem Ausland zurückgreifen und diese gemeinsam mit Expertinnen und Experten an die hiesigen Verhältnisse anpassen.
Das Personal adäquat einsetzen
Das Projekt beinhaltet zudem, dass die Heime im Hinblick auf die Zusammensetzung ihres Personals zwischen drei Qualitätslevels der Pflege entscheiden können – «sicher», «gut» und «exzellent».
«Der Fachkräftemangel zwingt dazu, die Pflegenden dort einzusetzen, wo sie benötigt werden».
Die Ergebnisse des Grademix-Konfigurators werden schliesslich mittels eines Dashboards visualisiert – und somit einfach und verständlich dargestellt. Die grafische Darstellung soll vor allem auch einen Vergleich ermöglichen zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand, sagt Stefka Goldschmid. Verknüpft werden die Ergebnisse des Konfigurators zudem mit Zufriedenheitsbefragungen der Mitarbeitenden.
«Bei der Berücksichtigung der Komplexität geht es nicht einfach darum, immer mehr tertiär ausgebildetes Fachpersonal im System zu haben», meint Sabine Hahn. Der Konfigurator ziele vielmehr darauf ab, dass die Pflegenden auf den verschiedenen Ausbildungsstufen wirklich das machen können, wofür sie ausgebildet sind. Die Zufriedenheit der Mitarbeitenden steige, wenn sie ihren Kompetenzen entsprechend eingesetzt sind. Hahn: «Der Fachkräftemangel zwingt dazu, die Pflegenden dort einzusetzen, wo sie benötigt werden».
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