DIVERSITÄT | Die Familienbegleitung mit dem Plus

24.03.2022 Claudia Weiss,
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Kulturelle Missverständnisse verhindern oft eine wirkungsvolle Sozialarbeit. Umso wichtiger sind Sozialarbeiterinnen wie Sugi Myluppillai, die persönlich erlebt hat, mit welchen Schwierigkeiten sich Familien herumschlagen, die in die Schweiz geflüchtet sind.

Eine häufige Ausgangslage in der Sozialhilfe sieht heute so aus: Eine Familie mit Migrationshintergrund ist von den vielen Anforderungen im neuen Land und den schwierigen Umständen überfordert und benötigt Unterstützung. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die von den Behörden mit der Unterstützung dieser Familien beauftragt werden, sind mehrheitlich in der bildungsnahen Mittelschicht in der Schweiz oder einem Nachbarland geboren – und kennen kaum eines der Probleme solcher Familien aus eigener Erfahrung.
 
Umso wertvoller sind spezialisierte Fachpersonen wie Sozialarbeiterin Sugi Myluppillai. Die energische 39-Jährige bringt für ihre Arbeit unersetzbares Erlebniswissen mit: Sie hat am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn Krieg die Familie auseinanderreisst. Jahrelang lebte sie mit ihren drei Brüdern – zwei älteren, einem jüngeren – bei den Grosseltern, bis ihre Eltern sie und ihre Brüder endlich in die Schweiz nachholen konnten.

Alte und neue Tradition miteinander vereinen

Da war sie zehn Jahre alt. «Ich sprach kein Wort Deutsch, kannte niemanden und alles war völlig neu für mich, als ich meine Schulzeit in einer zweiten Klasse in Biel begann», erinnert sie sich. Ihre Sprachbegabung half ihr zum Glück, sich schnell einzugewöhnen. Nach vier Jahren bestand sie die Aufnahmeprüfung an die Sekundarschule, später an die Handelsmittelschule in Neuenburg, wo sie gleich noch ihr Französisch perfektionierte, und schliesslich an die Fachhochschule für Soziale Arbeit FHNW Olten.

Längst spricht sie waschechten Bieler Dialekt, aber ihr ist immer noch sehr präsent, welche Stolpersteine das Leben in zwei unterschiedlichen Kulturen in sich birgt: Die tamilische Kultur aus Sri Lanka, die ihre Eltern als erste Flüchtlingsgeneration mitbrachten, hat auch sie zur Hälfte geprägt. Sie weiss, wie schwierig es für migrierte Eltern sein kann, die Kultur des neuen Landes zu verstehen und mit den mitgebrachten Traditionen zu vereinbaren. Und sie weiss ebenso, wie schwierig es für Jugendliche sein kann, nicht ganz zur Schweizer Kultur zu gehören, nicht gleich locker ausgehen zu dürfen wie die hiesigen Kolleginnen und Kollegen. «Es war nicht so, dass ich als einzige Tochter alle Hausarbeit übernehmen musste, denn weil meine Mutter arbeitete, half mein Vater auch im Haushalt mit, und auch meine Brüder erhielten ihre Ämtli», erzählt Sugi Myluppillai. «Aber Ausgang oder Wochenendausflüge mit Freundinnen kamen nicht in Frage.»

«Ich lernte vieles besser verstehen und einordnen.»

Als Jugendliche sei sie deshalb ein bisschen rebellisch geworden, und als junge Handelsschulstudentin zog sie kurzerhand von zuhause aus, obwohl ihre Eltern das ungern sahen, und genoss die Unabhängigkeit. Erste Berufsjahre führten sie nach Genf, später machte sie während des Studiums an der FHNW ein Praktikum in Strasbourg, und immer wieder gewöhnte sie sich an ein neues Umfeld, einen neuen Freundeskreis, eine andere Sprache.

Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte

Während des Studiums zur Sozialarbeiterin setzte sich Sugi Myluppillai dann intensiv mit sich und ihrer Geschichte auseinander. Für ihre Bachelorarbeit zog sie unter anderem die Arbeitsblätter des Instituts für Ethnologie bei, die von der Ethnologin Damaris Lüthi unter dem Titel «Soziale Beziehungen und Werte im Exil bewahren. Tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka im Raum Bern» herausgegeben worden waren. Das half, sagt sie heute: «Ich lernte vieles besser verstehen und einordnen.»

Inzwischen hat sie Erklärungen für die Fragen, die ihre Eltern nicht beantworten konnten, und weiss, dass für ihre Eltern damals noch fremd und erschreckend war, was in der Schweiz anders läuft. Aber auch, dass es ein sicheres Land ist, in dem sich Frauen frei bewegen können, in dem Frauen arbeiten dürfen und ein Kind allein aufziehen können. Sie versteht inzwischen auch, dass der Druck der tamilischen Community vor 20 Jahren so gross war, dass vieles als «Schande» galt, was in der Schweiz völlig akzeptiert ist. «Dieses Wissen macht mich heute stark.»

«Zuerst muss ich eine Kulturübersetzung leisten und gut aufklären, bevor ich irgendetwas abklären kann.»

Sorgfältig aufklären, bevor man abklären kann

Und dieses Wissen hilft ihr bei der Arbeit: Muss sie junge Rebellinnen und Rebellen oder allzu strenge Eltern beraten, kennt sie beiden Seiten und kann allen die Situation gut darlegen. Und wenn sie bei einer Familie eine Kesb-Abklärung vornehmen muss, weiss sie: «Zuerst muss ich eine Kulturübersetzung leisten und gut aufklären, bevor ich irgendetwas abklären kann.»

Sie erklärt den Familien genau, was die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden tun, warum eine Gefährdungsmeldung gemacht wurde, was Kindeswohl bedeutet, dass in der Schweiz physische und psychische Gewalt in der Erziehung verpönt ist und warum sich der Staat überhaupt in ihre familiären Angelegenheiten einmischt. Genau das sei oft schwierig, sagt die Sozialarbeiterin: «In den Herkunftsländern hat die erweiterte Familie samt Grosseltern, Tanten und Onkeln die Kontrolle über alles Private inne. Dieses wichtige Netzwerk fehlt aber in der Schweiz oft, hier leben die Familien abgeschottet für sich.» Damit eine Zusammenarbeit mit Kesb und Sozialamt gelinge, müsse man unbedingt verstehen, warum die Familien sich ablehnend verhielten. Und erklären: «Was machen wir überhaupt, warum sind wir hier?»

Einem rebellischen 15-Jährigen, der das Gefühl hat, er sei schon erwachsen und dürfe abends draussen bleiben, so lange er wolle, macht die Sozialarbeiterin dann klar, dass es Regelungen gibt, die er bis zur Volljährigkeit befolgen muss: Dass zwar in erster Linie die Eltern verantwortlich sind für ihre Kinder, dass aber auch der Staat eine Verantwortung für Kindeswohl und Kindesschutz trägt und eingreift, wenn dies nicht gewährleistet ist. Gleichzeitig achtet sie auf den kulturellen Hintergrund der Eltern und ihre Situation: Lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne, abwesende Eltern und Kinder, die mehrheitlich auf sich gestellt sind, «das alles muss berücksichtigt werden».

«Diversität sollte schliesslich nicht nur auf der Theorieebene stattfinden.»

Hat sie sich ein Bild gemacht, erklärt sie ringsum, was hierzulande gesetzlich gilt und was möglich ist. «Ob dann die Familie aus Afghanistan kommt, aus Syrien oder der Türkei – die Problematik ist meist dieselbe», hat sie festgestellt. Und alle Familien profitieren davon, dass sie mit einem anderen Verständnis an eine Abklärung herangeht.

Offener Blick ohne Pauschalisierung

Wie wichtig ihr Zusatzverständnis ist, wurde Sugi Myluppillai schon während ihres Studiums bewusst: In ihrer Klasse sassen ausser Schweizerinnen und Schweizern noch je ein Kollege aus Italien, Luxemburg und Deutschland – und sie als einzige Tamilin. Umso mehr versuchte sie immer wieder ein bisschen, auch bei ihren Kommilitoninnen ein Umdenken anzustossen: «Sozialarbeit sollte einen offenen Blick ohne Pauschalisierung haben», plädiert sie. «Diversität sollte schliesslich nicht nur auf der Theorieebene stattfinden.»

So oft sei sie beispielsweise gefragt worden, ob ihre Eltern einen Schweizer Freund akzeptieren würden. Dabei sei die wichtigste Frage eine ganz andere als die auf die Nationalität bezogene: «Nämlich die, ob meine Eltern generell Freundschaften akzeptieren würden.» Dieses Umdenken ist ihr wichtig, und sie wünscht, dass Menschen aller Nationen ihre Kinder so offen erziehen, dass sie andere Kulturen kennenlernen wollen. Und dass besonders ihre Kolleginnen und Kollegen bei ihrer sozialen Arbeit den offenen Blick wahren und nach dem Hintergrund fragen.

Vorurteilsfrei in einer globalisierten Welt

Ihre Eltern haben inzwischen akzeptiert, dass Sugi Myluppillai ihren Weg geht, dass sie in einem wichtigen Beruf arbeitet, und sogar, dass sie die beiden Töchter allein grosszieht: «Heute haben sie das Vertrauen, dass ich als Frau selbstständig sein kann.» Sie wiederum will ihren Töchtern beibringen, vorurteilsfrei auf Menschen zuzugehen, und ihnen kein Rollenbild aufdrücken. «Sie sollen sich entfalten können, frei bewegen, offen sein – das ist wichtig, um in dieser globalisierten Welt zu überleben.»

Sugi Myluppillai geht ihnen als gutes Vorbild voran. Ihre Expertise ist gefragt, sie wird immer wieder zu Spezialprojekten hinzugezogen und hilft aus, wenn beispielsweise eine Projektgruppe nicht weiss, wie sie für eine Studie an eine bestimmte Zielgruppe mit Migrationshintergrund gelangen soll. Seit 2017 arbeitet sie in der Flüchtlings­sozialhilfe SRK Kanton Bern und in einem kleinen Pensum auch bei Kontext Mensch in Bern (www.kontextmensch.ch). Dort und in all ihren anderen Projekten wird ihr immer wieder deutlich bewusst: «Gute Integration ist gegenseitige Integration.»



Foto: Marco Zanoni