Alterspolitik: Kantone können voneinander lernen

01.05.2024 Elisabeth Seifert

Zwecks Inspiration der alterspolitischen Akteure haben die drei Organisationen Gerontologie.ch, Pro Senectute Schweiz und CURAVIVA die Plattform forum-alterspolitik.ch ins Leben gerufen. Ein Blick auf die Website zeigt: Erste Kantone haben damit begonnen, ihre Alterspolitik völlig zu überarbeiten, so etwa die Kantone Waadt und St. Gallen.

Unsere höhere Lebenserwartung führt dazu, dass es immer mehr ältere Menschen in der Gesellschaft gibt. Im schweizweiten Durchschnitt ist heute bereits knapp jede fünfte Person über 65 Jahre alt, nämlich gut 1,6 Mio. Menschen. Für das Jahr 2050 werden 2,6 Mio. prognostiziert. Interessant ist auch ein Blick auf den Altersquotient, der das Verhältnis aufzeigt zwischen Personen im Rentenalter zu Personen im erwerbsfähigen Alter: Derzeit liegt dieser bei knapp 31 Prozent, 2050 wird er, so die Prognose, auf 46,5 Prozent steigen.

Diese Veränderung in der Bevölkerungsstruktur zwingt die Gesellschaft respektive die Politik dazu, sich verstärkt der Gestaltung dieser Lebensphase anzunehmen, und zwar in allen Themenfeldern. Während die finanzielle Altersvorsorge und die Finanzierung der Gesundheitsversorgung vor allem eine Sache des Bundes sind, liegen andere zentrale Politikbereiche, etwa die Raumplanung, das Wohnen, die Mobilität sowie Pflege und Betreuung, in der Verantwortung der Kantone, wobei sie gewisse Aufgaben an die Gemeinden delegieren können.

Die Kantone haben damit zahlreiche Möglichkeiten, die Herausforderungen im Bereich der Alterspolitik anzugehen. Zwecks Unterstützung und Inspiration der alterspolitischen Akteure haben die drei nationalen Organisationen Geronto­logie.ch, Pro Senectute Schweiz und CURAVIVA im letzten Herbst die Plattform forum-alterspolitik.ch ins Leben gerufen. Ob Expertinnen und Experten oder auch Laien: Sie alle sollen sich ein Bild machen können vom aktuellen Stand und von den neuen Entwicklungen der Alterspolitik. Im Zentrum stehen die Steckbriefe der Kantone mit den jeweiligen gesetzlichen Grundlagen und alterspolitischen Konzepten. Darüber hinaus finden sich auf der Plattform allerhand Zahlen­material sowie übergeordnete Vertiefungsthemen.

Inspiration durch innovative Strategien

Das Forum für «innovative Alterspolitik» will zudem mehr sein als einfach nur eine Wissensplattform. Es zielt vielmehr darauf ab, den gegenseitigen Austausch zu fördern, um die Alterspolitik in allen Landesteilen gemeinsam weiterzuentwickeln. Ein Blick in die konzeptuellen Grundlagen verschiedener Kantone lässt erkennen, dass erste Kantone jetzt – respektive vor einigen wenigen Jahren – damit begonnen haben, ihre Alterspolitik völlig zu überarbeiten.

Zu diesen Kantonen gehören St. Gallen und Waadt. Ihre Altersstrategien dürften in Teilen oder als Ganzes durchaus auch für andere Kantone in der deutschen und lateinischen Schweiz von Interesse sein. Im Kanton St. Gallen ist über mehrere Jahre hinweg und unter Einbindung aller relevanter Akteure ein neues Altersleitbild entstanden. Der ent­sprechende Bericht, überschrieben mit «Gestaltungsprinzipien Alterspolitik», wurde 2022 vom Kantonsrat verabschiedet und ist jetzt in Umsetzung begriffen. Das Neue an diesem Leitbild sei der «ganzheitliche Blick auf das Alter», sagt Ingo Kratisch, Leiter Abteilung Alter im Amt für Soziales innerhalb des Departements des Inneren. Der Kanton beschränke sich nicht mehr auf die Pflegeheimplanung und verabschiede sich auch davon, Fragen rund um das Alter vor allem defizitorientiert anzugehen. «Wir stellen neu Themen wie die gesellschaftliche Teilhabe, das Wohnen im Sozialraum und die Prävention in den Vordergrund», unterstreicht Kratisch. Gefördert werden zu diesem Zweck Modelle der integrierten Angebotsgestaltung / Gesundheitsversorgung, und zudem soll auch das Potenzial informeller Helfersysteme erkannt und ausgeschöpft werden.

Mit ähnlichen Zielsetzungen ist im Kanton Waadt die Strategie «Altwerden 2030» entwickelt worden. Anders als die bisherige Altersstrategie, die einzig auf die Gesundheit zielte, erfasse die neue Strategie gleichzeitig sowohl soziale als auch gesundheitliche Belange, sagt Rebecca Ruiz, Vorsteherin des Departements für Gesundheit und Soziales. Dazu gehören etwa die soziale Unterstützung von Seniorinnen und Senioren, die Förderung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe sowie die Schaffung vielfältiger Wohn- und Lebensformen. Initiiert wurde der Strategieprozess im Jahr 2021 – mit der Einbindung von rund 300 Personen. «Mir war es wichtig, die direkt Betroffenen miteinzubeziehen und eine Alterspolitik für und mit den Seniorinnen und Senioren zu entwickeln», betont sie. Die im Rahmen dieses Prozesses entstandene – breit abgestützte – Strategie wurde Anfang Jahr an einer Pressekonferenz lanciert und wird in den kommenden Jahren umgesetzt.

Waadt: Austausch ermöglicht Ideenvielfalt

Der partizipative Ansatz wurde bei allen entscheidenden Projektetappen angewandt – bei der Konzeption, der konkreten Erarbeitung der Strategie und jetzt bei der Umsetzung. Überall konnten und können sämtliche Interessengruppen mitgestalten: Fachpersonen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich, Vertretende der Gemeinden, Forschende sowie Seniorinnen und Senioren. Ganz zu Beginn im Jahr 2021 diskutierten rund 150 Personen innerhalb von acht Workshops über die Bedürfnisse der älteren Bevölkerung, ihren Informationsbedarf, das Wohnen oder über die Gestaltung des Lebensendes. Dabei ging es darum, herauszufinden, was heute bereits gut läuft und was weniger gut.

«Mit dieser Partizipation wollen wir die verschiedenen Akteure ­zusammenbringen, um so die ­Angebote besser zu koordinieren. Indem wir jetzt alle Interessen­gruppen an Bord haben, entsteht eine interessante Dynamik.» 
Rebecca Ruiz, Vorsteherin des Waadtländer Departements für Gesundheit und Soziales

Auf dieser Basis hat die Verwaltung entlang mehrerer strate­gischer Handlungsfelder Leitlinien entwickelt – und diese an Rundtischgesprächen 200 Personen präsentiert und mit ihnen darüber diskutiert. Daraufhin hat die kantonale Projektgruppe konkrete Massnahmen entwickelt, einen darauf basierenden Aktionsplan ausgearbeitet – und diesen schliesslich einer breit zusammengesetzten Begleitgruppe unterbreitet. Parallel zur Erarbeitung der Massnahmen lancierte die Verwaltung einen Aufruf zur Einreichung entsprechender Pilotprojekte, mit denen innovative Ideen über drei Jahre getestet werden können. Zahlreiche Organisationen haben über 100 Projekte eingegeben, aus denen 40 ausgewählt worden sind.

In den verschiedenen Leitungsorganen, welche die Umsetzung dieser Pilotprojekte sowie der konkreten Massnahmen überwachen und steuern, nehmen nicht nur Mitglieder der Verwaltung teil, sondern auch sämtliche Interessen­gruppen. Und als Novum in der Schweiz ist Anfang Jahr eine Kampagne gestartet worden zur Schaffung eines Beirats aus Seniorinnen und Senioren. Dieser Seniorenrat wird den ganzen Umsetzungsprozess mittels Stellungnahmen begleiten, an Arbeitsgruppen teilnehmen und alle zwei Jahre eine Alterskonferenz organisieren.

«Mit dieser Partizipation wollen wir die verschiedenen Akteure zusammenbringen, um so die Angebote besser zu koordinieren», sagt Ruiz. Im Kanton Waadt gebe es bereits viele zukunftsweisende Dienstleistungen, die aber gerade für die ältere Bevölkerung noch besser zugänglich gemacht werden müssen. Und: «Indem wir jetzt alle Interessengruppen an Bord haben, entsteht eine interessante Dynamik.» Sie spricht damit auf die Vielfalt der eingebrachten Ideen an und die Unterstützung von «Altwerden 2030» durch breite Bevölkerungskreise.

St. Gallen: Unterstützung der Gemeinden

Um das neue Leitbild «Gestaltungsprinzipien der Alterspolitik» zu konkretisieren, hat der Kanton St. Gallen im letzten Jahr den Bericht «Zielbild integrierte Angebotsplanung im Altersbereich» veröffentlicht. Gedacht ist dieses «Zielbild» als Hilfsinstrument für die Gemeinden, die in St. Gallen für die Umsetzung der Alterspolitik zuständig sind. «Das Zielbild soll dabei helfen, ein gemeinsames Verständnis der Akteure zu schaffen und mögliche Aktivitäten basierend auf dem Zielbild gemeinsam zu planen und umzusetzen», sagt Ingo Kratisch, Leiter Abteilung Alter im Amt für Soziales. Es formuliert entlang den drei Unterstützungsphasen «Selbstständiges Wohnen zu Hause», «Nutzung temporärer Angebote» und «Wohnen im spezialisierten Umfeld» die jeweils nötigen Koordinationsaufgaben.

«Wir stellen neu Themen wie die gesellschaftliche Teilhabe, das Wohnen im Sozialraum und die Prävention in den Vordergrund. Gefördert werden zu diesem Zweck Modelle der integrierten Angebotsgestaltung.»
Ingo Kratisch, Leiter Abteilung Alter im Amt für Soziales innerhalb des St. Galler Departements des Inneren

Als besonders innovativ bezeichnet Kratisch ein web­basiertes Planungstool, das, basierend auf regelmässig aktualisierten Daten, dem Kanton eine Übersicht der Angebotsentwicklung gibt und jeder einzelnen Gemeinde oder Region dabei behilflich sein soll, ihren zukünftigen Planungsbedarf zu erkennen. Jeder Gemeinde oder Region kann ein aktueller Datenauszug in Form eines Kurzberichts des Planungstools zur Verfügung gestellt werden. Im Tool sind Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung gemäss Schweizerischem Gesundheitsobservatorium (Obsan) hinterlegt und es wird aufgezeigt, wie sich der Bedarf im Bereich Wohnen sowie in der ambulanten und der stationären Pflege entwickelt. Zukünftig sollen sämtliche vorhandenen Angebote einer Gemeinde mit zusätzlichen Kennzahlen im Tool abgebildet werden, von den verschiedenen Wohnformen bis hin zu unterschiedlichen Beratungs- und Betreuungsleistungen. Ebenfalls ist in der Weiterentwicklung des Tools ein Ampelsystem vorgesehen, das den Verantwortlichen anzeigt, ob sie auf Basis der Bevölkerungsentwicklung und des bestehenden Angebots einen Handlungsbedarf haben. «Mithilfe des Zielbildes können sie diesen Handlungsbedarf dann näher definieren und Lösungsansätze entwerfen», so Kratisch.

Damit die Gemeinden das Zielbild im Hinblick auf ihre eigenen Bedürfnisse richtig lesen können, plant der Kanton Sensibilisierungs-Workshops und Coachings. Diese sind derzeit für einzelne Pilotregionen in Planung. «Bei der Durchführung der Workshops ist es wichtig, dass die Gemeinden alle zentralen Leistungserbringer an Bord holen müssen.» Die Erkenntnisse aus diesen Workshops und Coachings fliessen in die Umsetzungsstrategie der Alterspolitik ein, wie Kratisch erläutert. Der Umsetzungs- respektive Aktionsplan soll möglichst genau den effektiven Bedürfnissen entsprechen. Zu diesem Zweck finden derzeit auch regelmässig Netzwerktreffen der Altersverantwortlichen der Gemeinden statt.

www.forum-alterspolitik.ch



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