ARCHITEKTUR | Durchdacht vom Keller bis zum Dach
Die wenigsten Jugendlichen wohnen freiwillig in einer Institution, das ist Gesamtleiter Werner Kuster klar. Die Aussenwohngruppe Hagenbuch des Schulheims Elgg ZH ist aber von Form über Material bis Farben bis ins letzte Detail so geplant, dass sich die Jugendlichen wohlfühlen und ihren Raum finden können.
Am Anfang stand ein Modellhaus, eine Idee, wie ein Wohnhaus für Jugendliche im Idealfall aussehen könnte. Architekt Ruedi Zehnder strahlt, als er den gezeichneten Modellentwurf erklärt. Kurz darauf steht er vor der Aussenwohngruppe Hagenbuch des Schulheims Elgg, zeigt auf das Haus neben dem riesigen alten Nussbaum und sagt: «Mit diesem Neubau kamen wir so nah an das Idealmodell, wie man überhaupt kommen kann aufgrund der Gegebenheiten des Grundstücks oder der Bauvorschriften.» Den Nussbaum hat er bewusst als Kraftbaum in die Planung integriert, um ihn herum bildet das Gebäude einen Winkel mit zwei Innenhöfen zum Grillieren, Verweilen und Tischtennisspielen.
Zehnder zeigt auf den freundlichen, mit Zelluloseflocken und Schafwolle isolierten Holzbau mit dem Satteldach, das von der Gemeinde vorgeschrieben wurde: Sämtliche Baumaterialien sind baubiologisch ausgeklügelt so gewählt, dass sie kein «Barackenfeeling», sondern ein freundliches, ausgleichendes Klima erzeugen. Das sei wichtig, erklärt Werner Kuster, Gesamtleiter Schulheim Elgg: «Viele Jugendliche sind sehr sensitiv, etliche leiden unter Allergien.» Die grüne Fassadenfarbe, das «Schulheim-Elgg-Grün», wurde auch passend zur angrenzenden Landwirtschaft ausgewählt, und die Holzsprossen sollten der Fassade bewusst etwas Spielerisches verleihen und zeigen, dass hier junge Menschen wohnen. Tatsächlich zeigt sich mit jedem Schritt: An diesem Haus ist alles minutiös durchdacht. Architekt Zehnder und Gesamtschulleiter Kuster haben sich von der Dachspitze bis zu den Kellerräumen überlegt, mit welchen Farben, Formen und Materialien sie Leichtigkeit hineinbringen und den bis zu zehn Jugendlichen ein angenehmes, stressarmes Zusammenleben ermöglichen.
Geholfen bei der Planung, erzählt Werner Kuster, habe nicht zuletzt das ehemalige Wohngruppenhaus: Es war in einem Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert untergebracht und sorgte mit engen Treppen, tiefen Decken, zu kleinen Doppelzimmern und zu wenigen Nasszellen für viel Stress. In den 15 Jahren als Gesamtschulleiter hat Kuster deutlich gesehen, was bei den Jugendlichen gar nicht geht: Doppelzimmer beispielsweise seien sowieso unzeitgemäss, erst recht für Jugendliche, die ja nicht einmal Geschwister seien. «Einzelzimmer und genügend Nasszellen wirken ausserdem präventiv gegen Übergriffe.»
Die breite Eichentreppe erdet
Architekt Zehnder nickt. «Das schlechte Beispiel hat uns weitergeführt», sagt er. Sehr schnell sei beispielsweise klar gewesen, dass eine zu enge Treppe schon beim Hereinkommen für Stress sorgt, weil dort der Stärkere bestimmt, wer durchgehen darf. In Hagenbuch bildet daher eine breite, solide Eichentreppe das Herzstück des Hauses, sie geht wie ein Baumstamm vom Keller bis in den zweiten Stock durch das ganze Haus. «Eiche erdet», erklärt Architekt Zehnder. Ein Zeichnerlehrling entwarf das hübsche, blattartige Muster in der Holzseitenwand, das Licht durchlässt. Rennen mehrere Jugendliche auf der Treppe rauf und runter, sagt Sozialpädagoge Georg Häusler, erzeuge das zwar einen ziemlichen Lärm. «Insgesamt merke ich aber durch die grosszügige Raumaufteilung eine deutliche Entspannung unter den Jugendlichen.»
Gleich hinter dem Eingang befindet sich eine grosse Garderobe mit genügend Platz, etwas weiter die geräumige Küche und der Essraum, alle mit grossen, bis zum Boden reichenden Fenstern. Die hellen Eschentische lassen sich für Pizzaabende zu einem grossen Tisch zusammenschieben oder für kleinere Essgruppen im Raum verteilen. «Auch diese Flexibilität sorgt für viel Entspannung», findet Sozialpädagoge Georg Häusler.
Farben zum Wohlfühlen
Im ganzen Haus sind die Farben mit Hilfe einer Farbberaterin gezielt gewählt worden: Der Boden, aus einem pflegeleichten, angenehm warmen Holzzementgemisch, ist in hellem Grau gehalten, «einer Aufräumfarbe, die Bodenhaftung gibt», das Weiss der Wände so abgetönt, dass es angenehm beruhigend wirkt. Das pastellige Orange, Gelb, Blau und Grün der Stühle im Besprechungszimmer unterstützt die Kommunikation, die minzgrünen Sofas im ebenerdigen Wohnzimmer und im Aufenthaltsraum unter dem Dach erzeugen einen beruhigenden Effekt. Sie wurden absichtlich so ausgewählt, dass man auf den niedrigen Lehnen gut sitzen kann: «Dort sitzen die Jugendlichen meiner Erfahrung nach am allerliebsten», sagt Gesamtleiter Kuster mit einem Schmunzeln. Die Badezimmer, immer eines für zwei Jugendliche, sind in erfrischendem Türkisblau gekachelt: «Eine körperfreundliche Farbe», hatte die Farbberaterin dem Bauteam ans Herz gelegt. Das sei wichtig, fand auch Werner Kuster: «Viele der Jugendlichen sind in der Pubertät und haben Mühe mit den Veränderungen ihres Körpers. Sie schätzen die angenehme Farbe.»
Zu bestimmten Entscheiden bewogen handfeste praktische Überlegungen: Der seit 30 Jahren tätige Haustechniker hatte die Nase voll davon, immer wieder Schranktüren zu reparieren, die aus Wut oder Frustration zugeknallt und dabei beschädigt worden waren. Er entwickelte stattdessen die Idee für helle Holzschränke ohne Türen und montierte über der offenen Front eine Vorhangschiene. Dort können auf die psychische Verfassung angepasste farbige Vorhänge eingezogen werden: Wer mit zu vielen Aggressionen kämpft, erhält beruhigende blaue oder grüne Stoffbahnen, wer eher depressiv ist, wird mit orangen oder roten Vorhängen aufgemuntert. Wer möchte, kann den Schrank auch als Raumteiler verwenden, zu diesem Zweck ist auf der Rückseite eine Steckwand für Fotos oder Plakate angebracht – das sei von Jugendlichen immer wieder als Bedürfnis signalisiert worden. Die anderen Möbel kommen teils aus der Brockenstube und dürfen selbst bemalt werden, das gibt den Jugendlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Jedes Zimmer hat mindestens ein grosses Fenster, und alle haben eine freundliche Aussicht ins Grüne, sogar die beiden obersten Zimmer mit Dachschräge.
Billardtisch und Bastelecke
So wohl sich die Jugendlichen in ihren Zimmern fühlen sollen: Die Idee ist nicht, dass sie sich einigeln und den ganzen Tag dort verbringen. «Sie sollen auch zu gemeinsamen Aktivitäten angeregt werden», erklärt Werner Kuster. Auf jedem Stockwerk wurden deshalb verschiedene Nischen eingeplant: Sie laden zu diversen Beschäftigungen ein, eine Nische ist als Leseecke ausgestattet, eine andere als Mal- und Bastelecke, eine weitere mit einem Billardtisch bestückt. Auch der Gruppenraum unter der Dachschräge lockt immer wieder Jugendliche, die private Gespräche führen oder etwas abseits von den anderen ein Spiel spielen möchten. All diese Überlegungen hätten gut funktioniert, freut sich Kuster. «Seit der neue pädagogische Ansatz gemäss Methodik der Kompetenzorientierung eingeführt und vor fünfeinhalb Jahren der Neubau bezogen wurde, sind die Jugendlichen deutlich entspannter geworden.» Sozialpädagoge Häusler, der seit 20 Jahren im Schulheim Elgg arbeitet und schon die alte Wohngruppe gekannt hatte, bestätigt: «Das rundum gute Klima wirkt sich auf alle sehr angenehm aus.»
Energiesparend und teils selbstgestaltet
Der ausgeklügelte Neubau, dessen Planung und Bewilligung dreieinhalb Jahre dauerte, ist auch energietechnisch auf dem neusten Stand: ein Minergiehaus mit Solarpanels, Erdsondenheizung und Wärmepumpe. Die Belüftung liefert jahrein, jahraus angenehm vorgewärmte oder abgekühlte Frischluft. Damit die Lampen in den öffentlichen Räumen nicht unnötig Energie verpuffen, sind sie mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Im Keller, am Ende des Gangs mit den elegant verpackten Heiz- und Belüftungsrohren, befindet sich ein zusätzlicher Gruppenraum. Dieser wurde zusammen mit einer Gruppe von Jugendlichen selbst ausgestaltet: Der Entscheid fiel zugunsten eines Tanzraums mit grossen Wandspiegeln, der gemeinsam und unter Anleitung ausgebaut wurde und heute auch als Partyraum verwendet werden kann.
Billig ist es nicht, hochwertige Materialien und moderne Minergiestandards zu verbauen: 3,2 Millionen Franken kostete der Neubau. Fast die Hälfte habe er sehr schnell mit einer Spendensammlung hereinbekommen, sagt Gesamtleiter Kuster, je einen Beitrag sprachen Bund und Kanton, und ein Teil stammt aus Eigenleistungen des «Vereins Schulheim Elgg». In diesem Haus, sagt Kuster, soll nicht gelten «das tut’s doch schon für diese Jugendlichen». Vielmehr sollen es Kinder und Jugendliche, die nicht in ihrer Familie leben können, besonders gut haben: «Ein liebevolles, helles, freundliches Zuhause, damit sie trotz ihres Rucksacks gute Chancen für die Zukunft erhalten.»
Foto: Schulheim Elgg/Philip Böni