Pflege und Begleitung im Alltag

Lebensaktivitäten bestimmen den Alltag eines jeden Menschen. Er gestaltet sie nach seinen grundlegenden Lebensbedürfnissen. Diese Lebensaktivitäten beeinflussen die persönliche Lebensqualität.

Verschiedene Pflegekonzepte, die in Alters- und Pflegeheimen und zum Teil auch in Institutionen für Menschen mit Behinderungen umgesetzt werden, strukturieren die Aktivitäten des täglichen Lebens. In der Praxis finden insbesondere zwei Modelle Anwendung: die Gliederung von 12 Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) nach Liliane Juchli und die 13 Aktivitäten, Beziehungen und existenziellen Erfahrungen des Lebens (ABEDL) nach Monika Krohwinkel. Die beiden Modelle sind zu einem grossen Teil deckungsgleich.  

Menschen mit einer Demenzerkrankung weisen zunehmend Lücken in der Fähigkeit der Selbstgestaltung dieser Aktivitäten auf. Die als Kind erworbene Alltagskompetenz geht stufenweise verloren (vgl. Reisbergskala von Barry Reisberg, in: Held/Ermini-Fünfschilling, 2004, S. 17). Als Folge davon müssen Pflege-, Betreuungs- und Begleitungsleistungen zunehmend intensiviert werden.

Diese Demenzbox beschreibt die körperbezogenen Unterstützungsfelder. Dargestellt werden dabei die Auswirkungen der Demenzerkrankung auf die jeweilige Lebensaktivität sowie mögliche Unterstützungsmassnahmen. Für vertiefende Informationen sei auf die vollständige Demenzbox-Literaturliste hingewiesen.

Weitere Lebensaktivitäten werden an anderer Stelle der Demenzbox aufgegriffen: z.B. «Kommunizieren», «Sich beschäftigen», «sichere und fördernde Umgebung»; «soziale Bereiche und Beziehungen sichern», «mit existenziellen Erfahrungen des täglichen Lebens umgehen».

Konzeptvorlagen für Pflege, Betreuung und Sicherheit

Aktivitäten des täglichen Lebens

Essen und trinken

Auswirkungen der Demenzerkrankung in späten Phasen

  • Apraxie ist eine Störung der willkürlichen, zielgerichteten Bewegungen bei intakter motorischer Funktion (z.B. Umgang mit Besteck, Tassen und Gläsern).
  • Agnosie ist eine Erkenntnisstörung trotz intakter Sinnesorgane. Es werden z.B. Speisen auf dem Teller nicht mehr erkannt oder das Wissen, was mit dem Essbesteck gemacht wird, kann nicht mehr abgerufen werden.
  • Entscheidungsunfähigkeit bei mehreren Komponenten auf dem Teller.
  • Störungen beim Beissen, Kauen und Schlucken von Nahrungsmitteln und Getränken.
  • Aspirieren, d.h. Eindringen von Nahrung in die Atemwege.
  • Hunger- und Durstgefühle werden nicht mehr wahrgenommen bzw. können nicht zugeordnet werden. Dies kann zu einer Gewichtsabnahme und einer Dehydrierung führen.
  • Kachexie ist ein pathologischer Gewichtsverlust, der einhergeht mit Blutarmut, Appetitlosigkeit und Kräfteschwund.

Unterstützungsmöglichkeiten

  • Genügend Ruhe- und Essenszeiten gewähren und diese auf den ganzen Tag verteilen.
  • Unterstützung nach dem Grundsatz «nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich».
  • Jahreszeiten, Brauchtum, Rituale berücksichtigen.
  • Biografiebezogene Verpflegung und entsprechendes Essmilieu. Dabei gilt es unter anderem, die regionale Küche und das Essen aus der Kindheit und der Jugendzeit zu berücksichtigen.
  • Gerichte frisch vor Ort zubereiten (Frontcooking) und möglichst viele Sinne ansprechen. Dabei können wesentliche Teile des Zubereitungs- und des Kochvorgangs beobachtet und miterlebt werden.
  • Die Kostformen dem aktuellen Gesundheitszustand anpassen (z.B. grob gewürfelt, Fingerfood, fein geschnitten, passiert-püriert oder flüssig). Menschen mit einer Demenzerkrankung, die zum Essen nicht ruhig sitzen können, Fingerfood und Foodtankstellen anbieten («fliegende Verpflegung», «Eat by walking»). Dabei werden Schüsseln/Platten mit mundgerechten Stücken von Käse, Fleisch, Wurst, Gemüse, Trockenfrüchten und Keksen oder  fantasievolles Apérogebäck bereitgestellt.
  • Smoothfood, d.h. mit Lachgas aufgeschäumte Produkte, eignen sich für Personen mit starken Schluck- und Kaustörungen. Durch ihre mousseartige Konsistenz können sie mit einem Kaffeelöffel eingenommen werden.

Auch bei geduldiger und zeitaufwendiger Nahrungseingabe essen Patienten mit fortgeschrittener Demenzerkrankung oft nur noch wenig und verlieren an Gewicht. Zudem verschlucken sie sich wiederholt. Wenn Entzündungen in Mund- und Rachenraum ausgeschlossen werden können, muss dieses Verhalten als nonverbale Willensäusserung akzeptiert werden.

Der Einsatz von Ernährungssonden ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Zudem konnte bislang ein positiver Effekt bei Menschen mit Demenzerkrankung nicht nachgewiesen werden. Auch die Flüssigkeitszufuhr mittels Infusion ist selten angezeigt und kann oft nur mit Zwangsmassnahmen, z.B. durch die Fixation der Hände, erreicht werden.

Ruhen und schlafen

Auswirkungen der Demenzerkrankung

  • Zunehmende Unruhe am späten Nachmittag und amAbend (vgl. «Sundowning-Phänomen», das Angetriebensein von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung).
  • Agitation am Morgen (vgl. «Sunrising-Phänomen», das auch in Zusammenhang mit einer Depression auftreten kann).
  • Zubettgehen und Einschlafen kann schwierig werden.
  • Längere Wachperioden in der Nacht, aufstehen und Drang zu Aktivitäten.
  • Beim polyphasischen Schlaf wird der Schlafbedarf nicht am Stück, sondern in mindestens drei Schlafphasen gedeckt. Dabei sind Schlaf- und Wachphasen unabhängig von Tages- und Nachtzeit.
  • Bei der Tag-und Nacht-Umkehr wird der Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag.

Unterstützungsmöglichkeiten

  • Genügend Aktivitäten und soziale Kontakte am Tag ermöglichen.
  • Viel Bewegung tagsüber, möglichst im Freien, z. B. durch Spaziergänge. Die Aufnahme von genügend Tageslicht unterstützt die Produktion des körpereigenen Hormons Melatonin, das den Schlaf reguliert.
  • Klare, einfache, gleichbleibende und möglichst vertraute Tagesstruktur.
  • Am Abend gedämpftes Licht. Reize und Aufregung vermeiden.
  • Friedliches, beruhigendes Abend- und/oder Einschlafritual, Entspannungstee, sanfte Musik.
  • Abklären von körperlichen Ursachen für den gestörten Schlaf (z.B. Schmerzen, Halluzinationen, Depressionen, Hunger oder Durst).
  • Kaffee kann bei Menschen mit einer Demenzerkrankung entspannend wirken und sie schläfrig machen. Schlafmedikamente nur nach Absprache mit dem Arzt (Erhöhung der Sturzgefahr).
  • Akzeptanz der Rhythmusänderung von Begleit- und Betreuungspersonen, wenn der Tag zur Nacht wird. Oft ist diese Änderung eine zeitlich begrenzte Phase im Verlauf der Krankheit.
  • Unterstützung der «inneren Uhr» durch eine entsprechende Steuerung des künstlichen Lichts (vgl. Demenzbox «Räumlich-architektonische Faktoren»).
  • Nachtcafé, Nachtprogramm, Nachtaktivitäten, Nachtklinik.

Sich bewegen

Auswirkungen der Demenzerkrankung

  • Die erlernte, hochkomplexe Planung, Steuerung und Koordination des Gehens geht verloren.
  • Unfähigkeit zur Ausführung gleichzeitiger Handlungen (z.B. jemandem beim Gehen zuhören oder etwas erzählen).
  • Stellt man eine Frage, steht der Demenzkranke abrupt still und versucht, diese zu beantworten.
  • Bewegungsprobleme entstehen oft in Kombination mit anderen Einschränkungen (z.B. eingeschränkte Wahrnehmung der Oberfläche von Gehstrecken, Seh- und Hörprobleme, Gelenkschmerzen, schwindende Muskelkraft).
  • Zunehmende Sturzgefahr.
  • Teilweise, d.h. bei etwa 10–20 Prozent aller Patienten mit fortgeschrittener Demenz treten bizarre motorische Bewegungsmuster auf (z.B. «Wandering», d.h. Umherstreifen, Umherirren).

Unterstützungsmöglichkeiten

  • Für eine Sturzprophylaxe ist an unterschiedliche Massnahmen zu denken, z.B. an bauliche Massnahmen, an den Einsatz einer spezifischen Beleuchtung, an Gehhilfen, an Sitz- und Liegegelegenheiten «unterwegs», aber auch an die Verbesserung der Sehfähigkeit (Brille) und des Gehörs (Hörapparat).
  • Eine proteinreiche Ernährung kann die muskuläre Stabilität und Balance unterstützen.
  • Ressourcen und Fähigkeiten vorausschauend einschätzen, nicht überfordern.
  • Keine medikamentöse Ruhigstellung durch Neuroleptika oder Benzodiazepine.
  • Bewegungsabläufe nicht im «Hauruckverfahren», sondern gemäss kinästhetischen Grundsätzen ausführen.
  • Bewegungskompetenz durch den gezielten Einsatz von rhythmischen Kadenzen fördern, z.B. durch Singen, Taktklopfen, Tanzen oder Angebot spezifischer Dalcroze-Ateliers. 

Sexualität leben

Auswirkungen der Demenzkrankheit

  • Das Bedürfnis nach Nähe und Intimität kann sich infolge der Krankheit Demenz verändern.
  • Eigene Bedürfnisse können im Vordergrund stehen, z.T. kommt es, insbesondere bei einer frontotemporalen Demenz, zu einer Enthemmung, da die Selbstkontrolle vermindert ist.
  • Die sozialen und moralischen Verhaltensformen können verloren gehen. Auch Hemmschwellen können schwinden. Dies kann ein unangepasstes Verhalten, mitunter auch in der Öffentlichkeit, zur Folge haben (grobe Wörter, Annäherungsversuche, Berühren des eigenen Intimbereichs oder des Intimbereichs anderer Personen).
  • Das Schamgefühl im eigentlichen Sinne ist oft nicht mehr vorhanden.
  • Da Menschen mit einer Demenzerkrankung eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart leben, nehmen sie sich selbst häufig als jung wahr und wissen beispielsweise nicht mehr, dass sie verheiratet waren oder sind.
  • Sie können sich bei der Intimpflege bedroht oder stimuliert fühlen.

Unterstützungsmöglichkeiten

  • Privat- und Intimsphäre wahren.
  • Spärlich bekleidete oder sexuell erregte Person umsichtig vor fremden Blicken schützen.
  • Bei der Intimpflege begleitend erklären, was gemacht wird und was die Rolle
    der pflegenden Person ist.

Der Gang zur Toilette

Auswirkungen der Demenzerkrankung

  • Durch die Demenzerkrankung kann die notwendige Verknüpfung von verschiedenen kognitiven Fähigkeiten verloren gehen, welche zur Ausführung dieser Aktivität notwendig sind (z.B. Ausscheidungsbedürfnis wahrnehmen, Entscheidung für den Toilettengang treffen, Toilette finden, sich entkleiden und die Entleerung gezielt durchführen). Dadurch entsteht eine nicht steuerbare Situation bei der Entleerung der Blase und des Enddarms.
  • Das Schamgefühl erschwert die Akzeptanz von Unterstützungsleistungen.

Unterstützungsmöglichkeiten             

  • Täglich ballaststoffreiche Ernährung einnehmen und genügend trinken, d.h. 2–3 Liter Flüssigkeit.
  • Auf eine regelmässige Darmentleerung achten (Kalender führen).
  • Intimsphäre wahren, z.B. durch den Einsatz von Paravents oder durch das Schliessen der Zimmertüre.
  • Auf nonverbale Signale oder Bedürfnisse achten.
  • Regelmässig zum Toilettengang animieren oder direkt auf die Toilette begleiten.
  • Leicht zu öffnende Kleidungsstücke.
  • Klar erkennbare Toiletteneingänge, gute Beleuchtung.
  • Eventuell Zusatzhocker für begleitendes Personal (oft werden bis zu 10 Minuten gebraucht, bis die Ausscheidung erfolgt) oder die Tür einen Spalt breit offen lassen).
  • Bequemes Sitzen ermöglichen (evtl. Aufsatz, Schemel).
  • Erfolg bestätigen, eventuell loben und sich bedanken.
  • Einlagewechsel langsam, eventuell unter dem Deckbett wechseln.
  • Basale Stimulation durch langsame Streichungbewegungen in Darmrichtung.
  • Kombination von osmotisch wirksamen Laxanzien (Abführmittel) mit Gleitmittel
  • Klistiere grosszügig und häufig anwenden.

Herausforderndes Verhalten

Im Verlauf der Krankheit kann sich das Verhalten von Menschen mit einer Demenzerkrankung und von Menschen mit kognitiver Behinderung und einer Demenzerkrankung so verändern, dass es als störend und problematisch empfunden wird. Das herausfordernde Verhalten kann sich in Form von Aktivität oder von Passivität äussern. Dazu gehören etwa zielloses Herumwandern, Aggressivität, Schreien, Depressionen und Apathie. Solche Verhaltensweisen sind Ausdruck des starken Leidensdrucks, dem die Betroffenen ausgesetzt sind.

Gerade bei herausforderndem Verhalten ist es wichtig, über ein gewisses Grundwissen zum möglichen Verlauf und zu den möglichen Begleiterscheinungen einer demenziellen Erkrankung zu verfügen. Wesentliche Voraussetzungen für deeskalierendes Handeln in Krisensituationen sind die Haltung und die daraus folgende Handlung bzw. Reaktion der Fachpersonen. In diesem Sinn tragen die Fachpersonen einen wesentlichen Beitrag zur Lebensqualität der Menschen bei, die an Demenz erkrankt sind. Dies gilt gleichsam für Menschen mit einer geistigen oder einer psychischen Behinderung, die an einer Demenz erkrankt sind.

Im neuropsychiatrischen Inventar Version Pflegeheim NPI-NH von RAI werden folgende Verhaltensweisen als «herausfordernd» klassiert:

  • Wahnvorstellungen
  • Halluzinationen
  • Erregung/Aggression
  • Depression/Dysphorie
  • Angst
  • Euphorie/Hochstimmung
  • Apathie/Gleichgültigkeit
  • Enthemmung
  • Reizbarkeit/Labilität
  • Abweichendes motorisches Verhalten

Grundsätzlich gilt: Verhalten ist immer im Beziehungskontext zwischen dem Individuum und seiner Umwelt zu betrachten und zu verstehen, d.h., das Verhalten einer Person steht immer in Beziehung zu ihrer aktuellen Umwelt. Daher ist neben der Lebensgeschichte auch diese Beziehung zu berücksichtigen, um ein Verhalten verstehen zu können.

Für diese Verhaltensveränderungen werden im deutschsprachigen Raum Fachbegriffe wie Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensprobleme verwendet. In der internationalen Literatur trifft man oftmals auf den Begriff «behavioural and psychological symptoms in dementia», abgekürzt BPSD.

Verhaltenssymptome

Herausforderndes Verhalten im Sinne von psychischen Symptomen und Verhaltenssymptomen ist bei Menschen mit einer Demenzerkrankung sehr häufig: 80–90 Prozent aller Erkrankten sind im Verlauf ihrer Krankheit davon betroffen. Man geht davon aus, dass dies auch bei Menschen mit kognitiver Behinderung oder psychischer Behinderung und einer demenziellen Erkrankung der Fall ist.

Als häufigste Symptome sind bekannt:

  • Agitation (Angetriebenheit)/Aggression
  • Reizbarkeit, Apathie (Teilnahmslosigkeit)
  • Depression
  • Ängstlichkeit
  • Wahnvorstellungen
  • Enthemmung
  • Abweichendes motorisches Verhalten
  • Euphorie
  • Halluzinationen

Herausforderndes Verhalten kann in verschiedenen Stadien der demenziellen Erkrankung in unterschiedlichen Ausprägungen und Kombinationen auftreten. Dieses Verhalten belastet Erkrankte, Angehörige, Betreuende und Pflegende oft stärker als die kognitiven Einschränkungen. Herausforderndes Verhalten kann viele Gründe haben, wobei diese oft nicht klar eruierbar sind.

Das NDB-Modell

Eine handhabbare Übersicht über mögliche Ursachen und Auslöser für herausforderndes Verhalten bietet das sogenannte NDB-Modell (need-driven dementia-compromised behavior model), das von einer Gruppe von nordamerikanischen Pflegewissenschaftlerinnen entwickelt wurde. Das NDB-Modell wird im deutschsprachigen Raum als «bedürfnisorientiertes Verhaltensmodell bei Demenz» bezeichnet. Das Modell dient unter anderem als Hilfsmittel für eine verstehende Diagnostik.

Das Modell unterscheidet zwei Arten von Variablen oder Faktoren, die ein Verhalten beeinflussen. Gemäss Alzheimerforum.de (Rahmenempfehlungen, 2006. S. 15) handelt es sich dabei einerseits um Hintergrundfaktoren, welche durch Interventionen kaum beeinflusst werden können. Die Beschreibung dieser Faktoren hilft aber, Risiken zu erfassen. Zur Gruppe der Hintergrundfaktoren zählen etwa der Gesundheitsstatus, physische und kognitive Fähigkeiten, aber auch Merkmale, die in die Krankheit mitgebracht wurden (z.B. Persönlichkeitseigenschaften, Reaktionen auf Belastungen).

Die zweite Gruppe von Faktoren wird als proximale, d.h. nahe Faktoren bezeichnet. Diese können eher beeinflusst werden. Zu ihnen gehören physiologische Bedürfnisse (z.B. Schmerzen, Hunger, Durst, Schlafstörungen), psychosoziale Bedürfnisse, Umgebungsreize (z.B. Licht, Farben, Lärm, Geräusche) sowie die soziale Umgebung (z.B. Kontinuität des Personals, Spannungen im Team oder mit Angehörigen).

Abklärung – Assessmentinstrumente

Jedes Verhalten – auch das von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung mit oder ohne zusätzlicher geistiger oder psychischer Behinderung – hat seine Gründe. Deshalb besteht der erste Schritt einer angemessenen Reaktion in der Suche nach diesen Gründen.

Zur Einschätzung des herausfordernden Verhaltens gibt es über 100 unterschiedliche Instrumente. Häufig eingesetzt wird die Cohen-Mansfield-Skala. Diese Skala weist allerdings verschiedene Defizite auf. Deshalb wurde am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke für die verstehende Diagnostik in der stationären Altenhilfe das Instrument idA (innovatives demenzorientiertes Assessmentsystem) entwickelt (u.a. Halek und Bartholomeyczik, 2010). Es enthält zu den verschiedenen Faktoren des NDB-Modells konkrete Leitfragen. Es soll helfen, die verstehende Diagnostik des herausfordernden Verhaltens systematisch und nachvollziehbar durchzuführen und zu dokumentieren.

Aus den USA stammt ein strukturiertes Verfahren zum Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen, das insbesondere auch Schmerzen berücksichtigt und den Einsatz von Psychopharmaka auf ein Mindestmass reduzieren soll. Diese sogenannte Serial Trial Intervention (STI) beschreibt 5 Schritte, die den Pflegeprozess bei Personen mit herausfordernden Verhaltensweisen inhaltlich strukturieren.

Bei Menschen mit einer Demenzerkrankung und geistiger Behinderung kommt dem Beobachten des täglichen Verhaltens gerade auch in Phasen mit herausforderndem Verhalten eine wichtige Bedeutung zu. Die Beobachtungen müssen allerdings regelmässig gemacht und dokumentiert werden.

Massnahmen

Nicht medikamentöse Massnahmen

Die Rahmenempfehlungen des deutschen Bundesministeriums für Gesundheit zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz zeigen die wichtigsten Möglichkeiten zum angemessenen Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten auf.

Die 7 Empfehlungen sind gut auf Menschen mit einer geistigen Behinderung und einer Demenzerkrankung adaptierbar. Sie behandeln folgende Themenbereiche:

  1. Verstehende Diagnostik
  2. Assessmentinstrumente
  3. Validieren
  4. Erinnerungspflege/Biografiearbeit
  5. Berührung, basale Stimulation, Snoezelen
  6. Bewegungsförderung
  7. Pflegerisches bzw. betreuerisches Handeln in akuten psychiatrischen Krisen

Der Einsatz von Deeskalationsstrategien kann im Umgang mit aggressivem Verhalten ebenfalls hilfreich sein, z. B. die Leitsätze «bei entstehender Spannung und bei Gefahr» nach Sauter (2004).

In der Demenzbox «Agogik und Therapie» sind diese und weitere Massnahmen näher beschrieben.

Grundsätzlich empfiehlt sich die Dokumentation aller Situationen, Vorkommisse und Interventionen. Dies kann helfen, gewisse Erkenntnisse zu erhalten, die, im richtigen Moment eingesetzt, ein sinnvolles Intervenieren ermöglichen. Wichtig ist zudem, dass die mit schwierigen Situationen konfrontierten Begleitpersonen professionelle Unterstützung erhalten und nicht alleine gelassen werden.

Deeskalationsstrategien in Konflikt- und Krisensituationen

Aggressives Verhalten entsteht meist bei Über- oder Unterforderung. Bei den Deeskalationsstrategien geht es vor allem darum, die Ursachen für das aggressive Verhalten zu erkennen. In den Aggressionstheorien werden verschiedene Faktoren unterschieden, die zu Aggressionsereignissen führen können:

  • Internale/individuelle Faktoren, z.B. kognitive Fähigkeiten, erlernte Verhaltensmuster.
  • Externale/strukturelle Faktoren, z.B. geschlossene Abteilung, organisatorische Regeln, Werte und Normen einer Einrichtung, Zeitmangel.
  • Fehldeutung des Verhaltens.

Es gibt Faktoren, die nicht veränderbar sind. In solchen Situationen macht es Sinn, den Blick auf die Beziehungsfaktoren und die strukturellen Faktoren zu richten.

Aggressionsereignisse können präventiv vermindert werden:

  • Eine bestmögliche Eintrittssituation schaffen (z.B. Besuch vor dem Eintritt, Einbezug der Angehörigen, Übergabeberichte).
  • Biografie und Lebensgewohnheiten erfassen und in den Pflege- und Betreuungsprozess integrieren.
  • Im Team gemeinsame Strategien erarbeiten, die von allen Teammitgliedern umgesetzt werden.
  • Klärung und Behandlung von medizinischen und psychiatrischen Einflussfaktoren (z.B. medizinische Diagnosen und Medikation).
  • Behandlung von neurophysiologischen Störungen (z.B. Wahrnehmungsstörungen, Verwirrtheit, Dehydration, Schmerzen, Schlafprobleme).
  • Anpassung der Betreuungs- und Pflegestrukturen (z.B. Intensität, Milieugestaltung, Tagesabläufe).
  • Befriedigen von grundlegenden Bedürfnissen (z.B. personenzentrierte Interaktion nach Kitwood).
  • Angepasste Kommunikation und Beziehungsgestaltung (z.B. Validation), basale Stimulation, Kinästhetik).
  • Vermeiden/Minimieren von Auslösefaktoren.

Interventionsmöglichkeiten zum Konfliktmanagement und zur Deeskalation

  • Persönliches Stress- und Ärgermanagement (z.B. Bewertungsprozesse wie Zuschreibungen, eigenen Stress oder Ärger bewusst machen).
  • Auf eigene Sicherheit achten (Alarmsysteme, Distanz einnehmen, Anwendung von Selbstschutztechniken).
  • Ursachen, Hintergründe und Not der Aggression ermitteln. (Welches Ziel wird mit der Aggression verfolgt?)
  • Grundregeln der Deeskalation anwenden.
  • Reizabschirmung bzw. Reizreduktion.
  • Möglichkeiten zum Time-out und damit zum Rückzug aus der Situation schaffen, z.B. mit einem reizarmen Aufenthaltsort.
  • Personenwechsel.
  • Ablenkung bzw. aus der Situation aussteigen, dazu können auch räumliche bzw. örtliche Veränderungen dienen.
  • Vertrauen aufbauen, um Spannungen und Angst zu reduzieren (freundliches Gesicht, eigene Körperhaltung und Stimmlage reflektieren).
  • Ausschöpfung der Reservemedikation gemäss ärztlicher Verordnung.

Interventionsmöglichkeiten in Notsituationen (Krisenbewältigung)

Hier gilt der Grundsatz: Der Schutz und die Sicherheit der Mitarbeitenden und der anderen Anwesenden stehen über dem Schutz und der Sicherheit des Bewohners/der Bewohnerin. Eine Krisenbewältigung wird als aussergewöhnliches Ereignis bewertet.

  • Abwehr und/oder Befreiung von körperlichen Angriffen (unter Berücksichtigung der Verhältnismässigkeit).
  • Sicherheit aller Beteiligten neu einschätzen.
  • Alarmierung.
  • Durchführung von freiheitsbeschränkenden Massnahmen bei Selbst- oder Fremdgefährdung nach den Richtlinien des Erwachsenenschutzrechts (bitte direkten Link zum Abschnitt über das Erwachsenenschutzrecht einfügen. Diese sind immer verhältnismässig einzusetzen und sind erst dann in Betracht zu ziehen, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

In der Schweiz existiert auf Vereinsbasis ein Netzwerk Aggressionsmanagement im Gesundheits- und Sozialwesen Schweiz (NAGS).

Medikamentöse Massnahmen

Die medikamentöse Behandlung von Verhaltens- und psychologischen Symptomen setzt voraus, dass ein individueller Therapieplan erstellt und die gesamte medikamentöse Therapie kritisch überprüft und möglichst vereinfacht wird (z.B. anhand von Serial Trial Intervention STI) . Gewisse Arzneimittel, v.a. anticholinerge Medikamente, sollten aufgrund ihrer ungünstigen Wirkung nicht eingesetzt werden. Sie hemmen die Wirkung von Acetylcholin, dem Hauptüberträgerstoff des Parasympathikus. Anticholinerge Medikamente werden daher auch Parasympatholytika genannt. Sie kommen beispielsweise bei der Behandlung von Erkrankungen wie Reizblase, Asthma oder Krämpfen innerer Organe zum Einsatz.

In der Behandlung von verhaltensbezogenen und psychologischen Symptomen einer Demenz (behavioral and psychological symptoms of dementia: BPSD) werden häufig Neuroleptika eingesetzt. Diese haben jedoch schwerwiegende Nebenwirkungen (Sedierung, Dämpfung der Gefühle, extrapyramidale Symptome, Stürze, Delir, zerebrovaskulärer Insult, erhöhte Mortalität). Für die Behandlung von BPSD haben nicht-medikamentöse Massnahmen mit einem Fokus auf die Beziehungs- und Interventionsgestaltung immer erste Priorität. Der unten erwähnte Leitfaden «Beurteilung und Therapie verhaltensbezogener und psychologischer Symptome bei Menschen mit Demenz» gibt Fachpersonen in der Praxis eine Hilfestellung zum Umgang mit Neuroleptika im Kontext von BPSD.

 

Palliative Care

Palliative Care umfasst die ganzheitliche Versorgung von Patientinnen und Patienten, deren Krankheit nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht. Im Vordergrund stehen Schmerz- und Symptommanagement sowie Begleitung von psychischen, sozialen und spirituellen Problemen. Ziel ist, die grösstmögliche Lebensqualität für Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen sicherzustellen.

Einleitung und Begriff

Palliative Care hat in der Schweiz eine lange Tradition. Seit der nationalen Strategie «Palliative Care» (2010–2015) wird sie offiziell und nachhaltig von Kantonen und Fachverbänden gefördert. Die nationale Strategie Palliative Care wurde im April 2017 in die Plattform Palliative Care überführt. Auf dieser Plattform finden sich Informationen zur entsprechenden nationalen Strategie sowie Grundlagendokumente und Forschungsergebnisse, die im Rahmen der Strategie entstanden sind.

Bei Menschen mit einer Demenzerkrankung und geistiger Behinderung ist im Gegensatz zu anderen Zielgruppen die palliative Versorgung bedeutend weniger weit fortgeschritten. Die PALCAP-Studie der interkantonalen Fachhochschule für Heilpädagogik liefert der Wissenschaft, der Praxis und der Politik Grundlagen zu Entscheidungen am Lebensende von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Das Ziel der Studie ist, zu definieren, welche Themen für die selbstbestimmte Gestaltung des Lebensendes wichtig sind.

Weiterführende Literatur
ZULIDAD – Zürcher Verlaufsstudie zu Leben und Sterben bei fortgeschrittener Demenz.

Palliative Geriatrie

Wichtigste Aufgabe der Palliativen Geriatrie ist es, alten Menschen bis zuletzt ein selbstbestimmtes, beschwerdearmes und würdiges Leben zu ermöglichen. Schmerzen, belastende körperliche Symptome und seelische Nöte sollen gelindert werden. Die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen stehen im Mittelpunkt des Handelns.

Hochbetagte Menschen werden oft von mehreren Erkrankungen und Krankheitssymptomen gleichzeitig belastet (Multimorbidität). Sie sind zudem häufig demenziell erkrankt und leiden unter Schmerzen. Bedürfnisse können sie oft nicht mehr allgemein verständlich formulieren.

Besondere Aufmerksamkeit muss darum der Zielgruppe Menschen mit einer Demenzerkrankung in der letzten Lebensphase gewidmet werden.

Lebensende

Für die Behandlung von Menschen mit fortgeschrittener Demenzerkrankung fehlen Guidelines für eine Evidence-Based Practice (Kunz, 2003, S. 355). Noch weniger Daten sind in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung und einer gleichzeitigen Demenzerkrankung vorhanden (vgl. PALCAP-Studie)

Die Therapieentscheidungen müssen sich an den individuellen Werten und der Lebensqualität des einzelnen Menschen orientieren. Im erwähnten Artikel von Roland Kunz finden sich die nachfolgenden, immer noch gültigen Hinweise auf spezifische Probleme, die sich bei den Menschen mit einer Demenzerkrankung am Lebensende stellen.

Sterbeprozess

Die degenerativen neurologischen Prozesse der Demenzerkrankung wirken sich nicht direkt tödlich aus. Der allgemeine Zerfall des Gesamtorganismus lässt aber Komplikationen immer wahrscheinlicher werden, die zum Tod führen. Am häufigsten treten Infektionen wie Lungenentzündungen auf, welche den eigentlichen Sterbeprozess auslösen können. In solchen Situationen muss im transparenten Austausch zwischen allen Beteiligten entschieden werden, ob eine antibiotische Therapie indiziert ist oder ob andere Massnahmen im Rahmen der Sterbebegleitung gewählt werden. Im Zentrum hat der früher schriftlich geäusserte Wille in einer Patientenverfügung oder der mutmassliche Wille des Sterbenden zu stehen. Eine besondere Funktion kommt der stellvertretenden Person gemäss neuem Erwachsenenschutzrecht zu.

Schmerzerfassung und Schmerztherapie

Die Schmerzerfassung ist vor allem bei Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenzerkrankung schwierig. Bei Menschen mit geistiger Behinderung ist die Schmerzerfassung an sich schon eine grosse Herausforderung. Kommt eine Demenerkrankung hinzu, sind differenzierte Beobachtungen unabdingbar, die fortlaufend dokumentiert werden. Der Grundsatz «Schmerz ist, was der Patient sagt» greift bei diesen Menschen nicht. Nebst der kognitiven Kompetenz ist auch die verbale Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt. Deshalb ist vor allem auf indirekte Schmerzhinweise zu achten. Verhaltensänderungen müssen dahingehend hinterfragt werden, ob sie möglicherweise Ausdruck von Schmerzen sein könnten. Dazu gehören z.B. aggressive Verhaltensweisen, Schreien und Stöhnen, ein veränderter Gesichtsausdruck, Schonhaltungen, ängstliche Abwehr während der Pflege, erschwerte Mobilisation, Appetitverminderung, Schlafstörungen, Unruhe oder veränderte Kontaktfähigkeit.

Die Assessment-Instrumente Doloplus, ECPA, BESD, ZOPA (Beobachtungsbogen auf vier Ebenen), EDAAP-Skala (zur Schmerzbeobachtung beim Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderungen) ermöglichen das systematische Beobachten und Dokumentieren von veränderten Verhaltensweisen, welche Ausdruck von Schmerzen sein können.

Online-Schmerzerfassungsinstrumente