Pflege- und Betreuungsansätze

Demenzspezifische Ansätze

Person-zentrierter Ansatz nach Tom Kitwood

Einleitung

Die Ursprünge des Ansatzes der person-zentrierten Pflege – dabei spricht man teilweise auch vom personenzentrierten Ansatz – gehen auf Theorie und Praxis der klientenzentrierten Psychotherapie des amerikanischen Psychologen Carl Rogers zurück.

Hinter dem personenzentrierten Ansatz steht eine Grundhaltung, die bis heute Aktualität besitzt: Das Ziel ist, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben selbstbestimmt als soziale Wesen in Beziehungen mit Rechten und Pflichten in der Gesellschaft leben können.

In den 1980er-Jahren entwickelten Tom Kitwood und die Bradford Dementia Group in England den Ansatz zu einem spezifischen Betreuungsansatz für Menschen mit einer Demenzerkrankung weiter. Bezugnehmend auf Rogers nannten sie ihren Ansatz «person-centred care» – person-zentrierte Pflege.

Für Tom Kitwood ist die Demenzerkrankung mehr als eine neurologische Beeinträchtigung. Er versteht sie als eine Form der Behinderung, die infolge einer Interaktion von fünf verschiedenen Ursachenkomplexen entsteht:

  • Persönlichkeitsentwicklung
  • Biografie
  • Körperliche Gesundheit
  • Neurologische Beeinträchtigung
  • Sozialpsychologie

Grundsätze und Ziele

Der person-zentrierte Ansatz stellt nach Welling (Person-zentrierter Ansatz, 2004) die Person, das Subjekt selbst, in den Mittelpunkt aller Betrachtungen. Das übergeordnete Ziel besteht darin, das Personsein von Menschen mit einer Demenzerkrankung zu erhalten und zu fördern. Dabei wird der zugrunde liegende Personenbegriff umfassend definiert. Neben der Kognition beinhaltet er Gefühle, Handlung, Zugehörigkeit, Bindungen an andere Personen und Identität. Menschen, die über diese vier Empfindungszustände in einem ausreichenden Mass verfügen, können sich trotz einer demenziellen Erkrankung relativ wohlfühlen.

Menschen mit einer demenziellen Erkrankung sind mit dem Fortschreiten des demenziellen Prozesses immer weniger in der Lage, ihr Personsein aufrechtzuerhalten. Damit das Personsein im Verlauf der Demenzerkrankung nicht auseinanderfällt, benötigen diese Menschen Begleitpersonen, die fähig und bereit sind, ihr Personsein anzuerkennen. Zum Personsein gehören die folgenden vier globalen Empfindungszustände:

  1. Das Gefühl, etwas wert zu sein
  2. Das Gefühl, etwas tun, etwas bewirken zu können
  3. Das Gefühl, Kontakt zu anderen Menschen zu haben, dazuzugehören
  4. Das Gefühl von Sicherheit, Urvertrauen und Hoffnung

Kitwood setzte den Erhalt des Personseins mit Wohlbefinden gleich. Er betonte, dass das Personsein und das Wohlbefinden mehr umfassen als die Fähigkeit, zu denken, und insbesondere durch die Gestaltung der Beziehung beeinflusst werden. Im Rahmen von Dementia Care Mapping (DCM), einem Beobachtungsverfahren, welches es ermöglicht, das individuelle relative Wohlbefinden anhand spezifischer Beobachtungskriterien zu messen, gewinnt der Begriff an Präzision und Klarheit.

Grundbedürfnisse und positive Interaktionen

Tom Kitwood (Demenz, 2004) geht davon aus, dass sich die Bedürfnisse von Menschen mit einer Demenzerkrankung nicht wesentlich von denen eines Menschen ohne Demenz unterscheiden. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass an Demenz Erkrankte ihre Bedürfnisse oft nicht so direkt äussern können. Zentrale Bedürfnisse verbergen sich häufig hinter den sogenannten «problematischen Verhaltensweisen».

Kitwood (Demenz, 2004, 121 ff.) hat fünf zentrale Grundbedürfnisse identifiziert, die sich gegenseitig überlappen und sich in dem zentralen Bedürfnis nach grosszügiger, bedingungsloser, verzeihender Annahme – nach Liebe verbinden.

Die Grundbedürfnisse sind:

  • Trost
  • Primäre Bindung
  • Einbeziehung
  • Beschäftigung
  • Identität

Positive Interaktionen

Tom Kitwood (Demenz, 2016, S. 133 ff.) beschreibt 12 verschiedene Arten positiver Interaktion. Er bezeichnet sie als provisorisch, da sie sich verändern können. Die Interaktionen liegen auch der Beobachtungsmethode von Dementia Care Mapping (DCM) zugrunde.

Psychobiografisches Pflegemodell nach Erwin Böhm

Einleitung

Das psychobiografische Pflegemodell wurde von Prof. Erwin Böhm entwickelt. Im Jahr 1985 wurde sein erstes Buch «Krankenpflege – Brücke in den Alltag» veröffentlicht (vergriffen). Sein bekanntestes Buch «Verwirrt nicht die Verwirrten» erschien erstmals 1988.

2001 wurde das «Europäische Netzwerk für Psychobiographische Pflegeforschung nach Prof. Böhm» (ENPP) in Zusammenarbeit mit Dr. Marc Avarello gegründet.

In Kooperation mit Fachleuten aus der Schweiz, Österreich, Deutschland und Luxemburg dient das ENPP der didaktischen Vermittlung, praktischen Umsetzung und wissenschaftlichen Weiterentwicklung der psychobiografischen Pflegetheorie nach Böhm.

Grundsätze und Ziele

Das psychobiografische Pflegemodell orientiert sich an den emotionalen, triebhaften Ressourcen des Menschen mit Demenz und nicht an seinen geistigen Defiziten.

Das Grundprinzip besteht darin, die thymopsychische Biografie als Ausgangspunkt der vorhandenen Probleme zu sehen (Thymopsyche = Gefühlsanteil der Seele, siehe auch psychobiografische Arbeit). Innerhalb dieses Modells wird die Krankheit eher als seelisches Problem verstanden, das aus der jeweiligen Biografie des Menschen erwachsen ist. Böhm wendet sich damit gegen die primär somatische Sichtweise, aus der seiner Meinung nach auch die Etikettierungen dieser Menschen als «Morbus Alzheimer» oder «senile Demenz» entstehen. Der Schwerpunkt bei Böhm liegt auf einer Gesundheitspflege, nicht auf der Krankheitspflege.

Verständnis dank Kenntnis der Biografie

Böhm spricht auch vom Normalitätsprinzip. Es besagt, dass Menschen ihre individuelle persönliche Lebensform entwickeln, aus der sich ihr Bild von einem «normalen» Verhalten und Handeln ergibt. Werden sie von einer Demenzkrankheit betroffen, greifen sie wieder auf ihre Normen und Handlungsweisen aus ihrer früheren Lebenszeit zurück.

Die Rückkehr in die Thymopsyche geschieht nach Böhm durch eine Hirnleistungsschwäche oder einen bestimmten Auslöser (wie beispielsweise Trauer, Umzug ins Heim o.ä.). In diesem Fall soll der Mensch durch die psychobiografische Pflege unterstützt werden. Dabei gilt es, seinen Rückzug zu verhindern, die Symptome der Krankheit zu lindern und seine Lebensqualität zu erhöhen. Das Verständnis für die Verhaltensweisen soll durch die Kenntnis der Biografie der Menschen geweckt werden.

Psychobiografische Arbeit

Beim psychobiografischen Pflegemodell geht es darum, die Seele des Menschen wiederzubeleben. Herausforderndes Verhalten soll aus der thymopsychischen Biografie heraus erschlossen und verstanden werden. Hier deckt sich die Böhm’sche Theorie mit vielen Ansätzen der Erinnerungsarbeit und mit der Forderung, den einzelnen Menschen kennenzulernen, um adäquat auf ihn eingehen zu können.

Wesentlicher Bestandteil der psychobiografischen Pflegetheorie ist die Kenntnis der Faktoren, die einen Menschen in seinem Leben geprägt haben. Diese Prägung setzt sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen: aus dem Zeitgeist, aus Erinnerungen, aus der Sprache, aus der Lebenssicht, aus dem jeweiligen Normalitätsprinzip (Beruf, Schicht, Wohnort), aus Coping-Strategien des Menschen (durch welche Eigenschaften/Massnahmen kompensiert ein Mensch bestimmte Erfahrungen?) usw.

Im Alter kommen gemäss Böhm die «wahren» Dinge zutage, die durch bestimmte Verhaltensweisen verarbeitet werden. Das thymopsychische Material stammt aus dem Altgedächtnis und setzt sich aus den Lebensgeschichten eines Menschen und aus Folkloresituationen (Wissen des Volkes, Zeitgeistphänomene) zusammen. Die historische und persönliche Biografie muss mit der allgemeinen Geschichtsforschung in Verbindung gebracht werden, um das Verhalten oder die sogenannten Coping-Strategien des Menschen verstehen zu können.

Die sieben Erreichbarkeitsstufen

Erwin Böhm teilt das Erleben von Menschen mit Demenz in sieben Stufen ein, die er den Stadien der Global Deterioration Scale (GDS) gegenüberstellt. Die GDS ist eine Skala, mit deren Hilfe der Krankheitsgrad eingeschätzt wird. Auf jeder dieser Stufen kann man den Menschen (ähnlich wie bei der Validation nach Feil) mit bestimmten Mitteln emotional erreichen.

 

Montessori-basiertes Demenzprogramm nach Cameron J. Camp

Überblick - Montessori-basiertes Demenzprogramm

Hintergrund des Ansatzes ist die Montessori-Pädagogik, welche ab 1907 von Maria Montessori entwickelt wurde. Sie zielt darauf ab, durch Beobachtung des Kindes den Lehrenden dazu zu führen, geeignete didaktische Techniken anzuwenden, um den Lernprozess optimal zu fördern. Der Grundgedanke der Montessori-Pädagogik «Hilf mir, es selbst zu tun» ist auch für Cameron Camp leitend. Der amerikanische Neuropsychologe entwickelte diesen Ansatz in den 1990er-Jahren.

Jede von einer Demenzkrankheit betroffene Person wird aufmerksam beobachtet, um ihre kognitiven, sensorischen, motorischen und sozialen Kompetenzen zu erkennen. So werden individuelle «Aktivitäten» entwickelt, die den momentanen Fähigkeiten entsprechen und Freude bereiten.

Der Ansatz von Camp hat seine besondere Wirkung bei Verhaltensauffälligkeiten und unverständlichen Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz. Camerons Ansatz leitet an, «wie ein Detektiv» nach den Ursachen für das Problem schaffende Verhalten zu suchen. Eine wichtige Fundgrube zum Verständnis von Motiven ist die Biografie eines Menschens.

Für die Betreuenden sind vier Schritte zentral:

  1. Durch intensives Beobachten und Sammeln von Informationen (Biografie) wird die Frage bearbeitet: Wer ist diese Person?
  2. Die verbliebenen Fähigkeiten werden aufgenommen und genutzt.
  3. Aus der genauen Analyse der jeweiligen Situation, in der die Auffälligkeit eintritt, werden Hypothesen für das «problematische Verhalten» formuliert.
  4. Anschliessend wird ein aussichtsreicher, alternativer Weg gesucht, um eine «Problemsituation» zu lösen.

In der Schweiz, vor allem in der Romandie, wird die Montessori-Methode nach Camp immer häufiger auch für Menschen im Alter mit geistigen Beeinträchtigungen in Alters- und Pflegeinstitutionen angewendet, so zum Beispiel im Alters- und Pflegeheim Les Grèves du Lac in Gletterens FR.

Mäeutisches Pflege- und Betreuungsmodell nach Cora van der Kooij

Überblick - Mäeutisches Pflege- und Betreuungsmodell

Das Modell der mäeutischen Pflege wurde in den 1990er-Jahren in den Niederlanden von Cora van der Kooij zur Betreuung von Menschen mit demenziellen Erkrankungen entwickelt. Unter Mäeutik versteht man im Allgemeinen, dass man einer Person zu einer Erkenntnis verhilft, indem man sie durch geeignete Fragen dazu veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden.

Van der Kooij (Pflege- und Betreuungsmodell, 2017) definiert die Mäeutik selbst als «Hebammenkunst für das Pflegetalent». Die Begriffe Mäeutik (Hebammenkunst) und mäeutisch (erlösend und befreiend) leiten sich von Sokrates ab. Dabei geht es Van der Kooij insbesondere um die Erlebenswelt der einzelnen Mitarbeitenden und der Person, die betreut wird, sowie der jeweiligen Reaktion auf bestimmte Situationen von Seiten der Mitarbeitenden. Somit reiht sich dieses Vorgehen in die Gruppe der Betreuungs- und Pflegemodelle ein, die die Beziehung in den Mittelpunkt stellen.

Eine Anlaufstelle zur Organisation und Durchführung von Veranstaltungen zum mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell gibt es in der Schweiz (Akademie für Mäeutik Schweiz).

Selbsterhaltungstherapie (SET) nach Barbara Romero

Überblick - Selbsterhaltungstherapie (SET)

Die Selbsterhaltungstherapie (SET), die von Barbara Romero entwickelt worden ist, stellt die Anpassung des sozialen und materiellen Umfeldes an die Bedürfnisse des Menschen mit einer Demenzerkrankung und die optimale Nutzung seiner Ressourcen ins Zentrum der Begleitung.

Dabei geht es Romero um die Stabilisierung des Selbstwerts. Das personale Selbst, also das innere Bild, das eine Person von sich hat, soll so weit wie möglich erhalten werden. Damit will die SET das emotionale Gleichgewicht wiederherstellen und depressive Reaktionen verringern.

Wichtige Elemente dabei sind die Anpassung der Kommunikation, der Alltagsgestaltung und Beschäftigung sowie die Erinnerungsarbeit. Mit geeigneten Beschäftigungen, Erlebnissen und alltäglichen Aktivitäten sollen die Betroffenen weder über- noch unterfordert werden, das Ziel ist die optimale Teilhabe am täglichen Leben. Eine besondere Bedeutung hat die Beschäftigung mit noch vorhandenen, persönlich wichtigen Erinnerungen.

SET ist psychologisch fundiert und in fachlichen Kreisen weit anerkannt. Die Ergebnisse von Studien zur Anwendung der SET in der Rehabilitation sprechen für eine positive Wirkung auf das Wohlbefinden der Menschen mit einer Demenzerkrankung und deren Angehörige. Die SET kann sowohl Konzepten zur alltäglichen Begleitung und Betreuung von Menschen mit Demenz als auch Interventionsprogrammen zugrunde gelegt werden.

Kernelemente der Selbsterhaltungstherapie

  • Aufbau von geeigneten Aktivitäten und Erlebnismöglichkeiten (unterstützende Beteiligung des Umfeldes)
  • Wertschätzende, bestätigende Kommunikation (Anpassung des Umfeldes)
  • Anpassung des materiellen Umfeldes
  • Psychotherapeutische Unterstützung, Selbsthilfegruppen (bei Bedarf)

Weiterführende Informationen
Institut SET

DEMIAN-Konzept

Überblick - DEMIAN-Konzept

Das DEMIAN-Konzept – die Abkürzung steht für DEmenzkranke Menschen in Individuell bedeutsamen AlltagssituationeN – stellt Menschen mit Demenz und ihre Bedürfnisse, Wünsche und Vorlieben in den Mittelpunkt der Pflege- und Betreuungsplanung.

Dabei soll die Individualität der Person wahrgenommen werden, um ihr wertschätzend zu begegnen und Schwerpunkte in Pflege und Betreuung setzen zu können. Informationen über Biografie, Erfahrungen und Werte der Person spielen eine wesentliche Rolle, um individuelle Pflege und Betreuung auf Basis emotional bedeutsamer Kontexte zu ermöglichen und somit gezielt das Personsein zu fördern.

Ziel des DEMIAN-Konzepts ist es, diejenigen Fähigkeiten (ressourcenorientiert) aufzugreifen, die durch die Demenz bisher weniger oder gar nicht beeinträchtigt wurden. Dazu werden alle erhobenen Informationen zu der Person in einer Fallbesprechung anhand eines Analyseschemas sortiert und gruppiert.

Für die gezielte Integration von individuellen Situationen in Pflege und Betreuung ist zunächst eine differenzierte Beobachtung der einzelnen Person notwendig. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass Pflege- und Betreuungspersonen in einen Austausch mit der Person, die an Demenz erkrankt ist, treten. So kann zusammengetragen werden, was dem begleiteten Menschen Freude bereitet, ihn interessiert oder wodurch er entspannen kann.

Das DEMIAN-Pflegekonzept wurde unter der Projektleitung von Prof. Dr. Andreas Kruse am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg entwickelt.

DEMIAN-Forschungsprojekt am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg

Biografie: Erinnerungsarbeit

Eine Biografie ist eine subjektive Konstruktion und hat mit der eigenen Wahrnehmung zu tun. Biografien beinhalten nicht nur kognitive, sondern immer auch emotionale und körperliche Dimensionen. Eindrücke und Erlebnisse in  unserem Leben nehmen wir «mit allen Sinnen» wahr. Impulse über den Körper und die Sinneswahrnehmungen können gezielt genutzt werden, um Erinnerungen anzuregen. Dies gilt besonders bei Menschen mit einer geistiger Behinderung wie auch  bei Menschen mit einer Demenzerkrankung. Biografiearbeit ist oft mit intensivem Kontakt mit Angehörigen verbunden. Dies besonders dann, wenn Menschen mit einer Demenzerkrankung selber nicht mehr in der Lage sind, sich verbal auszudrücken und von ihrem früheren Leben, von ihren Vorlieben und Befürchtungen, von ihrer Tagesgestaltung und ihren Interessen zu erzählen.

Das beobachtbare Erleben und Verhalten eines Menschen ergibt sich aus der Summe vergangener Lebensereignisse und ist nicht isoliert oder auf aktuelle Bezüge beschränkt zu betrachten. Aus der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen erwachsen Fähigkeiten und Eigenarten, deren Betrachtung eine bedürfnisorientierte Begleitung ermöglicht.

Forschungsergebnisse

Charlotte Berendonk stellt in ihrer Dissertation (vgl. Berendonk, 2015) den aktuellen, empirischen Forschungsstand zur Biografiearbeit mit Menschen mit Demenz zusammen und wertet diese aus.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass Wissen über die Lebensgeschichte nur selten systematisch in konkrete Pflege- und Betreuungssituationen einfliesst, was unter anderem auf bestimmte Rahmenbedingungen (z.B. zur Verfügung stehende Zeit) zurückzuführen ist.

Charlotte Berendonk untersucht zudem die Vorstellungen und Erfahrungen des Personals in Pflegeinstitutionen. Die Ergebnisse zeigen zwei unterschiedliche Konzeptmuster, welche von Pflegenden verfolgt werden.

a) Pflegende, die die subjektiv bedeutsamen Aspekte einer Lebensgeschichte kennenlernen möchten, um dem Menschen mit Demenz emotional bedeutsame Situationen ermöglichen zu können,

b) Pflegende, die nach «wahren Angaben» zur Lebensgeschichte eines Menschen mit Demenz streben und deshalb die Angehörigen als bedeutsame Informationsgeber erachten. Hier fliesst das biografische Wissen selten gezielt in Massnahmen ein.

Biografiearbeit - Menschen mit geistiger Behinderung

Auch bei Menschen mit einer geistigen Behinderung gewinnt das Thema Lebensbiografie an Bedeutung. Immer mehr Institutionen erstellen mit den Menschen mit einer geistigen Behinderung ein Lebensbuch. Nebst dem Erfassen von Vorlieben und Abneigungen, Kontaktdaten von Freunden und Angehörige werden Themen wie der Umgang mit Krankheiten, mit Schmerzen, medizinische Unterstützung am Lebensende und das Sterben aufgenommen. Die interkantonale Fachhochschule für Heilpädagogik Zürich hat, von der deutschen Lebenshilfe, den Leitfaden und ein Lebensbuch zum Ausfüllen auf schweizerische Verhältnisse adaptiert.

Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung und einer Demenzerkrankung ist der Einbezug manchmal nur teilweise möglich. Daher ist es wichtig, beim Zusammentragen von Lebensdaten und -ereignissen auf die Unterstützung von Angehörigen, Freunden und Bekannten zählen zu können. Es gilt jedoch zu bedenken, dass lebensgeschichtliche Ereignisse, Prägungen und Bedürfnisse von Dritten anders wahrgenommen und beurteilt werden, als von der begleiteten Person selbst. Wichtig ist zudem der Fokus auf für die Begleitung, Betreuung und Pflege bedeutsamen Informationen, die einen möglichst positiven Effekt auf die Lebensqualität haben könnten.

Christian Lindmeier (2013) zeigt auf, dass Erinnerungen auch im Körper gespeichert werden und über die Sinnesorgane, mittels Gefühlen, Töne und Düfte angeregt werden und wieder zum Vorschein kommen können. Dieses Sichtbarwerden kann Vorlieben und Antipathien aufzeigen und so mögliche Erkenntnisse und Erklärungen zum momentanen Zustand bzw. Verhalten geben.

Biografie und Demenz

Die Vergangenheit und die damit verbundene Lebensgeschichte haben für Menschen mit einer Demenzerkrankung eine grosse Bedeutung. Im Verlauf der Erkrankung finden sie sich in der aktuellen Situation immer weniger zurecht. Vieles können sie zunehmend schlechter deuten und verstehen und suchen vermutlich daher Halt in autobiografischen Erinnerungen.

Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis sind wertvolle Ressourcen und enthalten häufig wichtige Erlebnisse zwischen dem 10. und dem 30. Lebensjahr, eine für die Ausbildung der Identität prägende Zeit:

  • Viele Aspekte der Lebensgeschichte werden nicht nur im expliziten, sondern auch im impliziten Gedächtnis gespeichert. Dieses stellt eine Basis des individuellen Selbstverständnisses dar, welche trotz kognitiver Veränderungen sehr lange erhalten bleibt. Neben diesem leiblichen Ausdruck des Selbst und der Möglichkeit, über den Leib in Beziehung zu treten, haben Menschen mit Demenz weitere Ressourcen wie zum Beispiel das Erleben von Emotionen, welche durch Mimik, Gestik und Körperhaltung ausgedrückt werden und bis ins fortgeschrittene Stadium der Erkrankung bestehen können.
  • Menschen mit Demenz messen bis in späte Stadien des individuellen Krankheitsverlaufs Personen, Themen, Gegenständen oder Situationen eine persönliche Bedeutsamkeit bei. Dies können biografisch bedeutsame Themen sein. Darüber hinaus entwickeln Menschen mit Demenz aber auch neue Interessen, Vorlieben usw.
  • Eine weitere Ressource, die den sozialen Aspekt des Selbst verdeutlicht, ist das Eingehen neuer emotionaler Bindungen zu Personen, die erstmalig in ihr Umfeld treten, z.B. Pflegende oder andere Menschen mit Demenz.

Erinnerungspflege / Reminiszenz

In der Arbeit mit Menschen mit einer Demenzkrankheit kommt im Rahmen der Biografiearbeit dem Ansatz der Erinnerungspflege/Reminiszenzansatz und dem sensobiografischen Ansatz eine besondere Bedeutung zu.

Gemäss Sabine Bartholomeyczik (vergl. Bartholomeyczik, S. et al, 2006) stärkt das Erinnern lebensgeschichtlicher Ereignisse und gelebter Beziehungen die Identität und das soziale Zugehörigkeitsgefühl. Im Verlauf einer Demenzerkrankung erhält die soziale Umwelt zunehmend die Aufgabe, Situationen zu gestalten, die angenehme Erinnerungen ermöglichen und fördern. Menschen mit Demenz benötigen diese «Erinnerungshilfen», um sich ihrer Identität zu vergewissern, ihr Selbstbild zu bewahren sowie Bindung und Zugehörigkeit zu erleben. Für die Gestaltung einer individuellen Betreuung und Begleitung ist die Kenntnis der individuellen Lebenssituation und Vergangenheit eines Menschen mit einer Demenzerkrankung eine wichtige Grundlage.

 

Ansatz der Sensobiografie

Die Sensobiografie eignet sich gut für Menschen mit einer Demenzerkrankung und für Menschen mit einer geistigen Behinderung, die an einer Demenz erkrankt sind. Die Sensobiographie erschliesst die sinnlichen Gewohnheiten des Menschen, welche sich im Laufe seines vergangenen Lebens entfaltet haben. Diese sind oft mit gelebten Ritualen verbunden, rufen (positive) Erinnerungen hervor, bauen Vertrauen auf und bestätigen stets aufs Neue das Gefühl von Sicherheit. Diese Gewohnheiten prägen unser spezifisches Körpergedächtnis. Weil dieses Körpergedächtnis auch bei fortschreitender Demenz weitgehend erhalten bleibt, bietet der sensobiografische Ansatz einen besonderen Zugang zur Lebenswelt von Menschen mit einer Demenzerkrankung.

Um sensobiografische Informationen zu sammeln, sind folgende Fragen hilfreich:

Hören

  • Welche Klänge mag der an Demenz Erkrankte (etwa Glockenspiele, Spieluhren)?
  • Bei welchen Stimmen/Tonlagen zeigt er wohlwollende und wann eher ablehnende Reaktionen?
  • Welche Geräusche erschrecken ihn?

Sehen

  • Was sieht der an Demenz Erkrankte gern?
  • Schaut er vielleicht gern aus dem Fenster?
  • Welche Farben oder auch Muster gefallen ihm?

Fühlen

  • Was nimmt er gern in die Hand? Sind es Gegenstände, bestimmte Kleidungsstücke?
  • Mag er lieber weiche, kalte oder warme Materialien?
  • Nimmt er gern Holz, Erde, einen Stein, bestimmte Erinnerungsstücke oder anderes in die Hand?

Schmecken

  • Was schmeckt er gern?
  • Bestimmte Zubereitungen?
  • Mag er Süsses, Salziges oder eher Saures?

Riechen

  • Was riecht der an Demenz Erkrankte gern, bezogen auf Pflegeprodukte (Cremes oder Seifen), auf das Essen, auf Gerüche in der Natur, auf Festgerüche wie zu Weihnachten, auf Parfüm etc.?

Biografie-Fragebogen

Ergänzende Fragebogen im Bereich der Begleitung, Betreuung und Pflege unterscheiden sich stark. Oft haben sie eine standardisierte Form und orientieren sich eher am tabellarischen Lebenslauf. Andere fragen zudem nach Gewohnheiten in der Lebensgestaltung. In ihrer Form sind es häufig Fragen mit einer Auswahl an Antworten zum Ankreuzen.

Sozialpädagogische Ansätze/Modelle

Empowerment

Der Begriff «Empowerment» wird häufig als Selbstbefähigung, Selbstbemächtigung, Selbstermächtigung oder Selbstvertretung definiert. Empowerment hat in der Behindertenagogik einen hohen Stellenwert. So findet sich das Prinzip des Empowerments in vielen Begleitungs- und Betreuungskonzepten von Institutionen, die Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung begleiten. Empowerment verfolgt eine Stärke-Perspektive, die der Gepflogenheit, Menschen mit einer Behinderung im Licht von Defiziten, Schwächen oder Nicht-Könnens zu betrachten und zu behandeln, diametral gegenüber steht. Diese Stärkenperspektive führt zu folgenden Grundeinsichten:

  • Abkehr vom Defizitblickwinkel
  • Unbedingte Annahme des anderen und Akzeptanz seines Soseins
  • Vertrauen, erkennen und fördern der individuellen und sozialen Ressourcen
  • Respekt vor der Sicht des anderen und seinen Entscheidungen
  • Akzeptanz unkonventioneller Lebensentwürfe
  • Verzicht auf etikettierende, entmündigende und denunzierende Expertenurteile
  • Grundorientierung an der Rechteperspektive, der Bedürfnis- und Interessenlage sowie der Lebenszukunft marginalisierter Personen

Sozialraumorientierung

Seinen zentralen Ausgangspunkt und Fokus hat der Ansatz der Sozialraumorientierung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Anders als bei der Lebensweltorientierung ist der Denkansatz nicht auf das Individuum gerichtet, sondern auf das territoriale und infrastrukturelle Umfeld. Zusätzlich wird dabei aber auch die Art und Weise erfasst, wie Menschen sich selbst einen Lebensraum aneignen, ihm eine subjektiv relevante Bedeutung zuschreiben, ihn gestalten und nutzen.

Sozialraumorientierung bedeutet:
 
Bedarfsorientierung (anstatt Angebotsorientierung): die konsequente Ausrichtung der Leistungen am individuellen Bedarf. Die Betreuung passt sich den Menschen an und nicht die Menschen dem vorhandenen Betreuungsangebot. Damit steht auch die individuelle Lebensqualität im Zentrum. Um den Bedarf feststellen zu können, wird die Partizipation der betroffenen Menschen unerlässlich.

Eine konsequente Ausrichtung an den individuellen Ressourcen fördert Autonomie und Selbstwirksamkeit. Beim Einbezug von bereits vorhandenen Ressourcen im Umfeld der zu betreuenden Person kommt dem Sozialraum in seiner räumlichen (Quartier) und personellen Form (Angehörige, Nicht-Profis) eine wichtige Bedeutung zu.

Die Öffnung der Einrichtungen ist zentral für die Teilhabe der betreuten Personen am sozialen Leben und fördert den Aspekt der Normalisierung.  

Verschiedenes Fachwissen wird integriert, d.h., Angebote sollen nicht nur voneinander abgegrenzt werden. Rund um einzelne Situationen müssen die professionellen und die nicht professionellen Arbeiten koordiniert werden, damit massgeschneiderte Betreuung und Begleitung möglich wird.

Diese Aspekte hängen selbstverständlich zusammen: Wenn eine Einrichtung sich am individuellen Bedarf orientiert, so kommt es automatisch zu Mischformen von ambulanter und stationärer Betreuung sowie zu vielfältigen Angeboten für besondere Bedürfnissen.

Die Menschen sollen Ressourcen auch ausserhalb von Einrichtungen nutzen können: Die Betreuung wird sich vermehrt am «normalen» Leben orientieren. Dies bedeutet das Mitdenken des sozialen Umfelds und der Umwelt, in welchen die betroffenen Menschen ihr Leben führen.

Dadurch kommt das Konzept in die Nähe der lebensweltbezogenen (Behinderten-)Arbeit und dem Fokus auf das konkrete Wohnumfeld, Wohnviertel, Quartier oder auf kleinen, überschaubaren Gemeinden.

Lebensweltbezogene Behindertenarbeit

Mit diesem Ansatz soll ein Höchstmass an Lebensqualität für Menschen mit Lernschwierigkeiten, kognitiver oder komplexer Behinderung erzielt werden. Ihren Ausgangspunkt nimmt die lebensweltbezogene Behindertenarbeit in den 1980er-Jahren, als (vor allem) in den USA die Deinstitutionalisierung in der sozialen Arbeit die «Alltagswende» einläutete.

Theunissen verbindet mit «Lebensweltorientierung» die folgenden Leitprinzipien:

  • Ganzheitlichkeit (Ernstnehmen des Menschen in seiner Einmaligkeit)
  • Selbstbestimmung (Autonomie)
  • Respekt
  • Vertrauen
  • Subjektzentrierung
  • Partizipation (Teilhabe)
  • Politische Einmischung
  • Prävention
  • Ressourcenorientierung und -aktivierung
  • Regionalisierung und Dezentralisierung
  • Vernetzung

Normalisierungsprinzip

Das Normalisierungsprinzip wurde durch Nirje und Bank-Mikkelsen in Skandinavien eingeführt, durch Wolf Wolfensberger in den USA weiterentwickelt und fand grosse Verbreitung. In Deutschland hat Walter Thimm sich für die Verbreitung des Normalisierungsprinzips eingesetzt.

Das Streben nach Normalisierung präsentierte sich in Form einer Bürgerrechtsbewegung, als eine Reaktion gegen grosse Einrichtungen, in denen seit dem 19. Jahrhundert Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Beeinträchtigungen abgeschirmt von der Gesellschaft in oft erbärmlichen Zuständen lebten. Die Lebensbedingungen waren für diese Menschen nicht nur inhuman, sondern auch nicht «normal» im Vergleich mit dem Leben ausserhalb dieser Einrichtungen. Nirje betonte die Relevanz, den Menschen mit geistiger Behinderung einen normalen Lebensrhythmus zu ermöglichen und bedeutungsvolle Aspekte wie Wohnen, Freizeit und Arbeit als separate Lebensbereiche zu gestalten. Er formulierte das Recht des Menschen mit geistiger Behinderung auf einen normalen Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus, auf normale Entwicklungserfahrungen während der Lebensspanne, auf die Respektierung von Wahlmöglichkeiten, Wünschen und Bedürfnissen, auf eine zweigeschlechtliche Lebenswelt, auf ein Leben unter normalen ökonomischen Standards und auf Wohnen in einer normalen Wohnung und Nachbarschaft.

Diese Forderungen führten in vielen europäischen Ländern und in Nordamerika zu einer progressiven Politik der Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung.

In der Schweiz fand die Enthospitalisierung von Menschen mit kognitiver Behinderung und herausforderndem Verhalten ab den späten 80er- bis Ende der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts statt.

Eden-Alternative

Der New Yorker Hausarzt und Geriater Dr. William Thomas beschrieb 1992 Einsamkeit, Hilflosigkeit sowie Langeweile als die drei «Qualen» von hochbetagten Menschen. Als Massnahme formulierte er zehn leitende Grundprinzipien für eine menschenwürdige Betreuung im ambulanten und im stationären Bereich.

Auch in der Schweiz arbeiten mittlerweile einige Heime nach der Eden-Alternative. Der Name bezieht sich bewusst auf den Garten Eden. Hegen und Pflegen wie ein Garten, so soll sich auch die Betreuung, Begleitung und Pflege gestalten. Die Eden-Alternative formuliert keine spezifischen Handlungsleitlinien für die Begleitung von Menschen mit einer Demenz, ist aber durchaus übertragbar.

Website EDEN-Alternative

Logopädie

Die Logopädie ist im Kinder-und Jugendbereich wie auch im Behindertenbereich sehr weit verbreitet. Viele Menschen mit einer geistigen Behinderung besuchen bereits von Kindesbeinen die Logopädie. Sie wird auch bei Krankheiten und Menschen mit körperlichen oder Sinnesbehinderungen angewendet. Logopädie wird zur Unterstützung der Kommunikation, der Sprache, des Sprechens, des Redeflusses, der Stimmbildung, sowie des Lesens und des Schreibens eingesetzt.

Bei Menschen mit einer Demenzerkrankung und in der Geriatrie überhaupt wird Logopädie im Kontext von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen eingesetzt.

Die ausgebildeten Logopäden und Logopädinnen unterstützen die Mitarbeiter-/innen sowohl in der Abklärung, wie auch im Entwickeln von geeigneten Massnahmen zur Unterstützung der Kommunikation, bzw. der Verständigung und des Schluckens. Zu Hilfestellungen im Bereich der Kommunikation siehe auch die spezifische Demenzbox «Kommunikation und Beziehungsgestaltung».

Für die klassischen neurogenen Schluckstörungen (Dysphagie) steht eine Vielzahl von spezifischen Übungen zur Verbesserung von Schluckfunktionen zur Verfügung. Sie sind aber für Menschen mit einer Demenzerkrankung und Menschen mit geistiger Behinderung und einer Demenzerkrankung kaum anwendbar. Im Vordergrund stehen hier Anpassungen wie diätetische Kostformen, basale Stimulation über den Geruchssinn zur Förderung der Speichelbildung und atmosphärische Bedingungen bei der Essenseingabe.

Nützliche Kontaktadressen
Adressen kantonaler Berufsverbände:

www.logopaedie.ch

Fachstelle für Dysphagie